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Ehrenhüter

Ehrenhüter

Titel: Ehrenhüter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rose Gerdts
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wollte nicht, dass ihr Vater sie so sah. Auch nicht die beiden Brüder. Aber vor allem mied sie selbst jeden Blick in den Spiegel. Sie schämte sich. Was hatte sie für einen Vater, der seine eigene Tochter so zurichtete? Was war sie für eine Tochter, dass er sie so schlagen musste? Waren die Geheimnisse, die sie mit Nilgün teilte, so schlecht, so furchtbar, dass er all seine Liebe zu ihr und Nilgün vergaß?
    Noch nie zuvor hatte der Vater sie so misshandelt. Ihre Brüder hatten früher öfter mal Schläge kassiert. Doch gegenüber den Töchtern hielt er sich immer zurück. Abgesehen von ein paar Ohrfeigen, die er ab und an austeilte. Aber sie taten kaum weh. Saliha hatte im Gegensatz zu Nilgün gelernt, sie zu ignorieren.
    Nilgün, wo bist du?, dachte Saliha. Warum meldest du dich nicht? Warum schreibst du keine SMS? Die Verzweiflung schnürte Saliha den Hals zu. Hatte Nilgün Angst, dass der Vater Salihas Handy kontrollierte? Ahnte sie überhaupt, was sie mit ihrem gewagten Ausflug in die Welt ihres deutschen Freundes ausgelöst hatte?
    Ihre Brüder und der Vater waren Montagabend noch lange weggewesen. Sie hatten Nilgün gesucht. Erst mitten in der Nacht kamen sie in die Wohnung zurück. Saliha hörte sie miteinander reden. Leise. Einmal schluchzte ihre Mutter laut auf. Aber der Vater fuhr sie scharf an. Danach war ihre
Anne
verstummt. Erst später meinte Saliha sie wieder weinen zu hören, während Murat, Osman und ihr Vater miteinander sprachen. Geflüsterte Worte. Nicht für die Ohren der Frauen in der Familie gedacht. Vergeblich versuchte sie, den einen oder anderen Satz zu verstehen. Aber die Stimmen waren so gedämpft, dass sie nur den Namen ihrer Schwester heraushörte. Erschöpft schlief Saliha schließlich ein.
    Am nächsten Morgen waren sie und ihre Mutter allein in der Wohnung. Die drei Männer hatten das Haus schon verlassen. Saliha vermutete, dass sie Nilgün vor der Schule abfangen wollten. Sie betete, dass sie ihre Schwester nicht fanden. Besser Nilgün würde von selbst wiederkommen. Der Vater würde sie zwar hart bestrafen. Sehr hart. Aber noch war die Schande nicht bekannt geworden. Noch war das Gesicht ihres Vaters gewahrt. Noch redeten die Leute nicht. Aber mit jeder Stunde würde sein Zorn auf die ehrlose Tochter wachsen. Mit jedem Tag würde es für sie schwerer werden zurückzukehren.
    Als der Vater am Dienstagabend ohne Nilgün in die Wohnung kam, erwartete Saliha, dass sie erneut verhört werden würde. Aber er kam nicht zu ihr. Auch nicht am nächsten Morgen. Es war, als existierte sie gar nicht mehr. So wie Nilgün. Vielleicht hatte er sie längst gefunden und beschlossen, sie zu verstoßen.
    Ihre Mutter hatte rotumränderte Augen und sprach kaum ein Wort. Abends saßen die Männer im Wohnzimmer erstarrt vor ihrem Tee. Etwas Furchtbares musste passiert sein. Salihas Welt war mit einem Ruck stehengeblieben. Als sie sich schließlich doch weiterdrehte, hätte Saliha alles getan, um sie wieder anzuhalten.

07
    Schweigend stieg Navideh Petersen in den alten, metallicblauen Audi ihrer Dienststelle. Ein Windstoß wirbelte ein paar braun gefärbte Blätter einer wuchtigen Kastanie vom Straßenrand auf. Navideh ließ die Beifahrertür einen Augenblick länger als nötig offen stehen. Sie wandte ihr Gesicht der Abendsonne zu und schloss die Augen. Sie liebte den Herbst.
    Wann immer Navideh konnte, setzte sie sich in dieser Jahreszeit auf ihr Mountainbike und fuhr ins Blockland hinaus. Am liebsten an einem freien Tag mitten in der Woche, wenn sie fast allein auf der schmalen Straße hinter dem Wümmedeich unterwegs war. Am Wochenende bevölkerten Inlineskater und Radsportler aus der Stadt die Route, die dem gemächlich mäandernden Fluss folgte. Doch wenn Navideh sich ins Blockland aufmachte, begegnete sie höchstens ein paar Bauern. Die seit Jahrhunderten besiedelte Wümmeniederung strahlte eine große Ruhe aus. Navideh beneidete die wenigen Menschen, die hier lebten. Ihre auf Wurten und Deichen gebauten Häuser hatten ihren unverrückbaren Platz in dieser weiten Landschaft. Manche der Familien lebten schon seit Generationen auf ihren Höfen. Ein eher karges Leben, aber eines, das den Menschen Wurzeln gab.
    Navideh Petersen konnte sich an ihre eigene Heimat kaum noch erinnern. Als ihre Eltern vor den Mullahs aus dem Iran flüchteten, war sie noch ein Kind gewesen. Ihre einzige Erinnerung war ein schwacher Geruch von Duftreis mit Koriander und Bockshornklee. Eine dürftige Verbindung zu dem,

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