Ehrenhüter
Latin, liefen Arm in Arm durch das Künstlerviertel Saint Germain des Près und schworen sich auf der überfüllten Aussichtsplattform des Eiffelturms, dass sie ewig zusammenbleiben würden. Doch nach einer Woche musste Dajana zurück nach Rumänien. Ein Onkel hatte ihr dort einen lukrativen Job in seiner Autofirma versprochen. Und sie brauchte Geld, um ihr Studium in Bukarest zu finanzieren. Nach einem tränenreichen Abschied auf dem Flughafen Charles de Gaulle stellte sich Jorges an die nächste Schnellstraße Richtung Süden. Keine Stunde länger wollte er ohne Dajana in Paris bleiben.
Schließlich kaufte er sich eine Fahrkarte nach Rumänien und bestieg einen altersschwachen Reisebus, der auf der Fahrt nach Bukarest zweimal liegenblieb. Doch die Telefonnummer, die Dajana ihm auf einer Serviette notiert hatte, war falsch.
Aber Jorges gab nicht auf. Er postierte sich vor das Hauptgebäude der Universität in der Innenstadt. Hunderte von Studenten und Studentinnen bummelten Tag für Tag über den Universitätsplatz. Er stellte sich in die Mitte und jonglierte und machte dazu Späße, die keine Übersetzungbrauchten. Nachmittags stand oft eine dichte Traube von Menschen um ihn herum. Aber Dajana war nie dabei. Abends strich Jorges ungeduldig durch die Kneipen der Stadt. Irgendwo unter den zwei Millionen Menschen der Stadt musste sie doch sein.
Nach zwei Monaten war ihm endlich klar, dass er sie nicht mehr finden würde. Deprimiert kehrte er nach Bremen zurück. Er war dünn geworden und kämpfte gegen eine ständige Müdigkeit an. Selbst das Jonglieren kostete ihn Kraft. Ständig musste er einen Hustenreiz unterdrücken.
Als er schließlich zum Arzt ging, überredete ihn der Mediziner zu einem Tuberkolintest. Eine Röntgenuntersuchung bestätigte den Verdacht des Arztes: Jorges war in Rumänien an Tbc erkrankt. Das Antibiotikum, das er nehmen musste, schlug nicht an. Schließlich verordnete ihm der Lungenfacharzt einen Medikamentencocktail, der zu einer Entzündung des Sehnervs führte. Jorges verfiel zunehmend.
Der Wendepunkt kam, als er auf dem Marktplatz zufällig seiner Schwester über den Weg lief, zu der er seit seinem Auszug keinen Kontakt mehr gehabt hatte. Schockiert lud sie ihn zu einem Kaffee ein, und die beiden verbrachten den ganzen Nachmittag miteinander. Am nächsten Tag kam ihn seine Mutter in seinem winzigen Ein-Zimmer-Apartment besuchen. Endlich konnten sie miteinander reden, ohne mit Worten übereinander herzufallen. Danach telefonierten sie fast täglich. Ein paar Wochen später kündigte Jorges seine Wohnung und zog wieder bei seiner Mutter ein. Dort, so hatten sie vereinbart, sollte er so lange bleiben, bis es ihm gesundheitlich wieder besserginge.
Mit Hilfe seiner Familie kam Jorges wieder auf die Beine. Er holte sogar seinen Schulabschluss nach. In Abendkursenabsolvierte er sein Abitur. Ein Arzt, mit dem er sich während der langen Zeit der Erkrankung angefreundet hatte, vermittelte ihm schließlich eine Ausbildungsstelle zum Krankenpfleger. Mit einer festen Stelle an einem Krankenhaus wähnte sich Jorges endlich am Ziel seiner Träume. Aber nach einer Weile merkte er, dass er mehr wollte, als die Anweisungen anderer zu befolgen. Er wollte die Patienten selbst untersuchen und sie behandeln. Als seine Großmutter starb, vermachte sie jedem ihrer drei Enkel 15 000 Euro Bargeld. Für Jorges war es ein Wink des Schicksals. Er bewarb sich an mehreren Universitäten, bekam aber keinen Studienplatz. Doch Jorges war es gewohnt, für seine Träume zu kämpfen. Er arbeitete weiter als Krankenpfleger und fuhr so oft wie möglich nachts und am Wochenende Taxi. Das Geld legte er für sein Studium zurück. Um möglichst wenig auszugeben, zog er in ein kleines W G-Zimmer im Ostertor. Er war dort der Älteste, und die zwei Studenten, mit denen er Bad und Küche teilte, fand er nicht sonderlich sympathisch. Aber da die Wohnung zentral lag und wenig kostete, nahm er die Nachteile in Kauf.
Navideh Petersen hatte Jorges Anfang August auf einem Straßenfest kennengelernt. Er jonglierte mit fünf Bällen und brachte den Kindern Zaubertricks bei. Mit ihrem Mountainbike war Navideh schwungvoll in die Straße eingebogen und konnte gerade noch rechtzeitig abbremsen. Gut 20 Tische hatten die Anwohner auf die Straße geschleppt und mit den unterschiedlichsten Kuchen, selbstgebackenem Kürbisbrot, Marmelade und Obst aus ihren Kleingärten beladen. Navideh hatte nicht vor zu bleiben, aber plötzlich baute
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