Ehrenhüter
Cetins ein. Die Wohnung lag weiter im Dunkeln. Ohne auf die Tarnung seines ME K-Kollegen zu achten, rannte er zu dem dunklen Audi, der in 50 Meter Entfernung am Seitenstreifen parkte. Mit einem Ruck riss er die Fahrertür auf.
«Ist Saliha schon da?»
Der Beamte schüttelte unwirsch den Kopf. «Aber vielleicht schickst du auch noch Navideh und Michael hier vorbei. Dann wissen alle in der Nachbarschaft, dass die Polizei hier eine neue mobile Wache aufgemacht hat», bemerkte er sarkastisch.
«Behalte das Haus weiter im Auge. Sobald das Mädchen auftaucht, meldest du dich», befahl Steenhoff. Dann rannte er zurück zu Petersen.
Navideh hatte schlechte Nachrichten. «Jorges hat Saliha in den kleinen Straßen im Westend verloren.»
«Wie konnte das passieren?», polterte Steenhoff los.
«Sie ist entgegen der Fahrtrichtung in eine Einbahnstraße gefahren», sagte Navideh entschuldigend.
«Hat sie Jorges bemerkt?»
«Nein, er glaubt nicht.»
«Wie lange ist das her?»
«Eben gerade.»
Steenhoff sah ungeduldig auf seine Uhr. «Dann ist sie in spätestens zehn Minuten hier.»
Ungeduldig schaute Steenhoff immer wieder auf die Uhr. Die Minuten verstrichen. Doch sie warteten vergeblich. Inzwischen suchten drei Zivilstreifen im Westend nach dem Mädchen. Mit jeder Minute wurde Steenhoff unruhiger.
Auch Navideh fuhr sich nervös mit der Hand durch die langen Haare. «Scheiße Frank. Sie will gar nicht nach Hause!»Mit einem Ruck drehte sie sich zu ihm um: «Saliha ist auf dem Weg zu ihrer Schule!»
Aufgewühlt schlug Steenhoff aufs Lenkrad. «Natürlich. Ein sicherer Ort, eine Institution, die sie schützt, vielleicht ein Lehrer, dem sie vertraut …» Mitten im Satz brach er ab, drehte den Schlüssel im Zündschloss und gab so viel Gas, dass der Motor aufheulte. Er sah nicht, dass sein Kollege in dem dunklen Audi sich empört mit der Hand vor die Stirn schlug.
Als er Minuten später mit dem Fahrzeug in die Helgolander Straße einbog, reduzierte Steenhoff die Geschwindigkeit. Keiner von beiden sagte ein Wort. Irgendwo hier musste Saliha sein. Vielleicht versteckte sie sich in einem der schlecht beleuchteten Eingänge auf dem Weg zum Schulgebäude?
Petersen musste den gleichen Gedanken gehabt haben. Sie ließ die Seitenscheibe hinunter und leuchtete mit einer starken Stabtaschenlampe die Vorgärten und Hauseingänge ab.
Nach ein paar hundert Metern hielt Steenhoff vor dem roten Backsteingebäude der Schule, das wie ein uneinnehmbares Bollwerk an einer ruhigen Straßenkreuzung stand. Er parkte das Auto halb auf dem Bürgersteig und stieg aus. Meter für Meter sog er die Umgebung in sich auf.
«Frank!»
Petersens Stimme klang entsetzt. Er folgte ihrem Blick und wusste sofort, warum. Auf der anderen Straßenseite stand das Auto von Kemal Cetin.
«Ich gehe vorne rein, du hinten», rief Steenhoff ihr zu und rannte los.
Navideh sah, wie er in dem Haupteingang der Schule verschwand. Mit großen Schritten lief sie um das Gebäude herum auf den Schulhof. Nur einige Räume in dem mehrstöckigenHaus waren erleuchtet. Ihr matter Schein fiel auf den Hof.
Saliha rannte durch den Flur im zweiten Stock. Ihre Schritte hallten in dem leeren Gebäude wider.
Frau Tietjen! Sie musste Frau Tietjen finden. Die Klassenlehrerin war ihre letzte Rettung. Ein fremdes Keuchen hinter sich ließ sie mitten im Lauf herumfahren. Sie strauchelte und fiel zu Boden. Sofort rappelte sie sich wieder hoch. Saliha erwartete einen Schlag oder einen Stich, aber es war niemand da. Sie war ganz allein.
Hinter ihr lag nur der lange Flur, an dem sich die stillen, verschlossenen Klassenzimmer reihten. Erst jetzt bemerkte Saliha, dass sie selbst es war, die so schwer atmete. Tatsächlich bekam sie kaum noch Luft. Sie musste auf ihrem alten Rad von Romans Elternhaus bis zu ihrer Schule regelrecht geflogen sein. Aber sie hatte keinerlei Erinnerung mehr, wie sie nach Walle gekommen war. Saliha wusste nur, dass sie ihre Klassenlehrerin finden musste.
Nach der furchtbaren Entdeckung hatte sie sich wie blind auf ihr Rad geworfen, jede Faser ihres Körpers in Aufruhr. In ihrer Todesangst war ihr Frau Tietjen wieder in den Sinn gekommen. Sie konnte ja gar nicht zu Hause sein! Mittwochs waren immer Konferenzen, und abends dann noch ihre Theater-AG an der Schule. Der «Endlos-Tag», wie sie den Mittwoch in der Vergangenheit manchmal seufzend bezeichnet hatte.
Frau Tietjen würde wissen, was zu tun war.
Hanna Tietjen führte ein geordnetes,
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