Ehrenhüter
klares Leben. Nichts schien sie jemals wirklich erschüttern zu können. In ihrer Welt gab es Regeln und Ziele. Richtig gewählt konnten sieeinen überall hinbringen, war Frau Tietjen überzeugt und predigte dies auch ihren Schülern. Wie oft hatte Saliha mit ihren Freundinnen früher über die Klassenlehrerin gespottet. Jeden Zwischenfall meinte sie sofort in richtig oder falsch einordnen zu müssen. Hanna Tietjen schien keine Zweifel zu kennen. Richtig oder falsch. Falsch oder richtig. Alles hatte seinen Platz.
Wenn jemand wieder Ordnung in Salihas Leben bringen könnte, dann ihre Lehrerin.
Schwer atmend stand Saliha auf. Der Hausmeister hatte gesagt, dass Frau Tietjen die Proben früher als geplant in der Aula beendet hatte und mit einigen Schülerinnen nach oben in einen der Handarbeitsräume gegangen war, um weiter an den Kostümen zu arbeiten. Saliha ging auf eine braune, abgestoßene Holztür zu und lauschte angestrengt. Von innen drang kein Laut auf den Flur.
Saliha drückte die Türklinke herunter. Vergebens, der Raum war abgeschlossen. Frau Tietjen war nicht hier, wie der Hausmeister gesagt hatte. Wo war sie dann?
Wütend drückte Saliha die Klinke wieder und wieder hinunter. Aber die schwere Tür gab nicht nach. Tiefe Verzweiflung machte sich in Saliha breit. Sie wusste, sie würde nicht mehr die Kraft haben, sich erneut aufs Rad zu setzen und zum Haus der Lehrerin nach Findorff zu fahren. Sie hatte zu gar nichts mehr Kraft. Nilgün tot, ermordet im Haus ihres Freundes. Und die eigene Familie, die nichts Besseres zu tun hatte, als sie in eine ungewollte Ehe in der Türkei zu zwängen … Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
Erschöpft lehnte sich Saliha mit dem Rücken an die Wand. Verschwommen sah sie an dem linken Ende des Schulflurs einen Mann mit großen Schritten die Treppe heraufkommen.
Bei ihrem Anblick erstarrte er. «Saliha, du Miststück. Da bist du ja!» Osmans Worte dröhnte in ihren Ohren. Im selben Moment ging das automatische Licht im Flur aus.
In einigen Metern Entfernung sah Saliha das rote Lämpchen eines Lichtschalters leuchten. Blitzschnell erhob sie sich, drückte sich von der Wand ab und rannte in die entgegengesetzte Richtung davon. Sie konnte nichts sehen. Aber sie wusste, dass der Flur gleich einen Bogen machen würde. Hunderte Male war sie diesen Weg zur Pause hinuntergelaufen.
Doch mitten im Lauf gefror ihr Blut zu Eis.
«Scheiße, Osman, ich sehe nichts», hörte sie Murat wenige Meter vor sich jammern.
Die Brüder waren beide hier. Sie hatte keine Chance.
«Halt sie fest!», schrie Osman. «Sie muss ganz in deiner Nähe sein.»
Saliha ging in die Knie und kauerte sich hinter eine Vitrine, in der die Klassenlehrer die Kunstarbeiten der Schüler ausstellten. Gleich würde das Licht wieder angehen. Gleich würden sich ihre beiden Brüder auf sie stürzen.
‹Es ist aus, aus, aus›, hämmerte es in ihrem Kopf, als die Schritte näher kamen.
Murat stolperte an ihr vorbei in Richtung des Lichtschalters. Wenige Meter trennten ihn nur noch von dem Schalter. Wie ein waidwundes Tier, das sich ein letztes Mal gegen sein Ende stemmt, schnellte Saliha nach vorn.
Überrascht sah Navideh vom Hof aus in die oberen Stockwerke des Gebäudes. Das Licht im Flur des zweiten Stockes war ausgegangen. Aber jemand hatte es kurz danach wieder eingeschaltet.
Eine Bewegung an einem der großen Fenster bannte ihreAufmerksamkeit. ‹Was war das?› Navideh kniff die Augen zusammen. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag.
Der Klingelton des Handys ließ Steenhoff im ersten Moment in dem großen stillen Gebäude zusammenzucken. Die Schule schien bis auf den Hausmeister und einige Mitglieder einer Theater-AG völlig verwaist. Als er sah, dass es Petersen war, die ihn zu erreichen versuchte, nahm er das Gespräch hastig an.
Ungeduldig hörte er zu und begann noch mit dem Handy am Ohr loszulaufen. «Alarmiere die anderen. Sie sollen bei der Anfahrt Lärm machen. Komm so schnell du kannst!», befahl er ihr und rannte zum nächstgelegenen Treppenaufgang.
Saliha stand auf der breiten Fensterbank und versuchte mit dem Mauerwerk in ihrem Rücken zu verschmelzen. Ihr Herz schlug so laut, dass sie überzeugt war, dass es jeder hören müsste. Die leuchtend gelbe Gardine reichte bis zum Boden. Im Hochsommer wurden die Vorhänge immer zugezogen, um die Hitze in dem Gebäude erträglicher zu machen. Jetzt war der Stoff zurückgezogen und fiel in schwere Falten. Dahinter hörte sie, wie
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