Ehrenhüter
lag. Aber Petersen stand schon im Flur und drehte sich ungeduldig nach ihm um. Ohne weiter nachzudenken, steckte Steenhoff sich nur den Schokoriegel in die Innentasche seiner Jacke und schloss hinter sich die Tür. In spätestens drei Stunden wollte er wieder zu Hause sein. Ira hatte versprochen, etwas Italienisches zu kochen und eine Flasche guten Rotwein auf den Tisch zu stellen.
Er konnte nicht ahnen, dass Ira vergeblich auf ihn warten würde.
16
Kalt und abweisend erhoben sich die schwarzgrauen Mauern aus Beton. Steenhoff wich einige Schritte zurück, um Abstand zu gewinnen. Aber an seinem Gefühl änderte sich nichts. Als Mensch wirkte man unweigerlich kleinund zerbrechlich vor diesem Monument der Unmenschlichkeit.
‹Jeder Quadratmeter dieses Bunkers ist mit Blut getränkt›, dachte er bitter, als er den Koloss ein zweites Mal umrundete. Er musste sich zwingen, immer wieder an seine Ausgangsfrage zu denken. Ihretwegen waren sie hergekommen. Doch die erdrückenden Schatten des Bunkers lenkten Steenhoff immer wieder ab. Er wusste, Hunderte Männer aus mehr als einem Dutzend verschiedener Länder waren bei dem Bau des Bunkers elendig gestorben. Die meisten waren an Erschöpfung, Hunger und Krankheiten zugrunde gegangen, andere an den Misshandlungen der Bewacher. Kaum eines der Verbrechen war später je gesühnt worden. ‹Heute verbringen wir manchmal Monate damit, ein einziges Tötungsdelikt aufzuklären›, dachte Steenhoff. Während der Nazizeit dagegen war ein Menschenleben nicht viel wert gewesen. Gnadenlose Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft, Willkür und Sadismus hatten den Bunker Valentin entstehen lassen. Deshalb hieß er in der Bevölkerung «Menschenfresser».
Steenhoff schien es, als sei der Bunker das zu Stein gewordene Leid unzähliger Kriegsgefangener und K Z-Häftlinge . Und nun, über 60 Jahre später, bildete er die beklemmende Kulisse für den Fundort zweier toter Frauen. Beide hatten ihre Wurzeln in der Türkei, beide hatten ihren eigenen Weg gehen und sich nicht fügen wollen. Und beide hatten dafür mit dem Leben bezahlt.
Sein Blick glitt an den Mauern entlang und blieb an dem Deich hängen, der ihm im Vergleich zum Bunker wie eine sanfte Bodenwelle erschien. Dahinter waren Yasemin und Nilgün gefunden worden. Ihre Mörder waren bis zu dem kleinen Parkplatz in der Nähe des Deiches gefahren, hatten die sich wehrende Yasemin nachts hinübergezerrt und mitdem Gesicht in den schlammigen Boden gedrückt, bis sie kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Jahre später hatte jemand den Leichnam von Nilgün aus einem Auto gezogen und sie nur wenige Meter von Yasemins Fundort entfernt abgelegt.
Aber was bedeutete der Bunker Valentin für die türkische Gemeinde in Bremen? Wer wusste überhaupt von diesem Ort und seiner Vergangenheit? ‹Selbst viele alteingesessene Bremer sind bestimmt noch nie hier gewesen›, überlegte Steenhoff. Der Anblick war zu bedrückend, als dass man das Gelände an der Weser für einen sonntäglichen Spaziergang aussuchen würde. Sicherlich hatte der eine oder andere geschichtlich Interessierte an einer Führung teilgenommen. Aber selbst das Gros seiner eigenen Kollegen und Bekannten hatte den Bunker höchstens einmal aus der Ferne vom Wasser aus gesehen. Und für die Mehrheit der in Bremen lebenden Türken hatte der Bau aus der N S-Zeit vermutlich überhaupt keine Bedeutung. Welch absurde Idee, dass diesem Gelände für manche Türken etwas Symbolisches anhaften könnte. ‹Ich muss mich auf die Fakten konzentrieren und nicht wild herumassoziieren›, befahl sich Steenhoff in Gedanken.
«Du siehst genauso düster aus wie das scheußliche Bauwerk», hörte er plötzlich eine spöttische Stimme hinter sich. Petersen hatte den Bunker von der Nordseite her umrundet. Sie hatte ihre Hände in den Jackentaschen vergraben und schaute sich skeptisch um.
«Ehrlich gesagt habe ich keinen Beweis zu deiner Hypothese gefunden.» Sie sog die milde Oktoberluft tief ein. «Ich glaube wie du, dass es kein Zufall ist, dass hier zwei junge Frauen gefunden wurden. Aber alle meine Assoziationen dazu scheinen mir zu weit hergeholt.»
«Erzähl sie mir», forderte Steenhoff sie auf.
«Also, hier wurde zigfach Leben vernichtet», begann Navideh widerstrebend. «Minderwertiges Leben in den Augen der Nazis. Natürlich gab es darunter auch K Z-Häftlinge , die sich zuvor gegen die Nazis und ihre Gesetze aufgelehnt hatten. Das ist jedoch die einzige Parallele zu unseren beiden Frauen.
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