Ehrenhüter
mit einem Jungen zusammen war.»
«Und ahnte Nilgüns Klassensprecherin etwas von Roman?»
«Nein.»
«Was ist mit den anderen drei Jungen auf der Liste?», wollte Steenhoff wissen.
«Vermutlich alles nur Schüler, die entweder offen Interesse an ihr gezeigt haben, mit ihr Schach spielten oder prahlten, sie besser zu kennen.»
«Was heißt vermutlich?», hakte Steenhoff ungeduldig nach.
«Nach der Erfahrung mit Max Hintemann wollte ich noch ein bisschen mehr über die anderen wissen, bevor ich sie direkt konfrontiere. Bislang sieht aber alles danach aus, dass keiner der drei mit Nilgün zusammen war.»
Steenhoff nickte Fabian Block anerkennend zu. «Gut, bleib da dran. Am besten noch heute Nachmittag. Wir müssen so schnell wie möglich herausfinden, wer Nilgüns große Liebe war oder ob es sie überhaupt gab. Vielleicht wollte sie sich ja auch nur von Roman trennen, weil sie schwanger war und abtreiben wollte.» Er drehte sich zu Wessel um. «Was ist bei deinen Ermittlungen in Bremerhaven herausgekommen?»
Wessel verzog das Gesicht. «Ayub Cetin wirkte verschlossen und genauso unzugänglich wie sein Bruder Kemal.» Wessel hatte sowohl ihn als auch dessen Frau Ayse und die zwei Cousinen in Nilgüns Alter befragt. «Am Ende haben sie alle geschworen, dass sie nichts von Nilgüns Schwangerschaft oder ihrem Verschwinden wussten.» Er fuhr sich mit beiden Händen gleichzeitig durch die Haare und sah sich in der Runde um: «Und ehrlich gesagt habe ich denen das abgenommen. Die Frau wirkte erschüttert, und Ayub Cetin ließ an mehreren Stellen durchblicken, wie verärgert er sei, dass sich sein Bruder in der Not nicht an ihn gewandt hat. Natürlich betonten sie alle, dass Kemal Cetin oder seine Söhne niemals etwas mit Nilgüns Tod zu tun haben könnten.»
«Hast du sie gefragt, was Kemal Cetin ihrer Meinung nach mit der ungehorsamen Tochter gemacht hätte?»
Michael Wessel richtete sich in seinem Stuhl auf und schlug mit beiden Händen auf die Oberschenkel. Er konntenur mit Mühe seine Empörung unterdrücken. «Ayub Cetin meinte, Kemal hätte Nilgün in der Türkei an einen älteren Mann verheiraten können. Das Mädchen sei schließlich hübsch gewesen, und ein Witwer hätte sie auch noch genommen, obwohl sie schon im Bett eines anderen Mannes gewesen sei.»
Navideh schaute vor sich auf den Boden und schüttelte den Kopf.
Wessel griff neben sich in eine Tasche und holte drei Stadtpläne heraus. Er hatte die Wege und Uhrzeiten überprüft, die Kemal, Osman und Murat Cetin unabhängig voneinander in die Pläne eingezeichnet hatten.
«Die Angaben stimmen bis auf eine Ausnahme überein. Kemal Cetin will gegen 20 Uhr die Treffpunkte von Jugendlichen im Grünzug West mit Murat und Osman abgesucht haben. Die beiden Jungen haben aber angegeben, sich erst gegen 21 Uhr mit ihrem Vater an einer Kreuzung in Walle getroffen zu haben. Vorher hätten sie Freunde und Verwandte angerufen, um nach Nilgün zu fragen, oder seien zum Jugendzentrum in Walle gefahren.»
Sie vereinbarten, dass sich Wessel nochmal Kemal Cetin vornehmen und den Widerspruch klären sollte. Am Montagmorgen sollte er dann mit Block nach Berlin fahren, um die Familie der vor Jahren am Bunker Valentin ermordeten Yasemin zu befragen. Steenhoff selbst wollte mit Petersen zum Bunker rausfahren. Er berichtete von seinem Gedanken, der Bunker Valentin könnte als Ort der Strafe benutzt werden. Schließlich waren zwei junge Frauen aus demselben Kulturkreis, die beide Tabus gebrochen hatten, dort tot aufgefunden worden.
«Aber wonach wollt ihr auf dem Gelände suchen?», fragte Wessel skeptisch.
«Ich weiß es nicht», antwortete Steenhoff ehrlich. «Aber das letzte Mal haben wir nur nach offensichtlichen Spuren im Deichvorland und rund um den Bunker gesucht. Vielleicht gibt es eine versteckte Symbolik, die wir noch gar nicht beachtet haben.»
Wessel war anzusehen, dass er nicht viel von der Idee hielt, aber er verkniff sich einen Kommentar.
Sie vereinbarten, am Abend ihre Ergebnisse kurz telefonisch zusammenzutragen, dann trennten sie sich. Petersen und Steenhoff gingen zurück in ihr Büro.
Als Steenhoff seine Jacke vom Tisch nahm, fiel sein Blick auf einen Schokoriegel, den er am Vormittag von zu Hause mitgenommen hatte. Er hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen und ein flaues Gefühl im Magen. Er griff nach dem Riegel und überlegte einen Moment lang, auch noch eine Tüte mit Nüssen mitzunehmen, die in der untersten Schreibtischschublade
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