Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
machen droht, und mit der Entdeckung der Atomenergie andererseits hat eine Situation geschaffen, in der man »Probleme« mit einem Vernichtungspotential lösen könnte, dem gegenüber Hitlers Gasanlagen sich wie die stümperhaften Versuche eines bösartigen Kindes ausnehmen. Es besteht aller Grund, sich zu fürchten, und aller Grund, »die Vergangenheit zu bewältigen«.
Weil also das Noch-nie-Dagewesene, wenn es einmal erschienen ist, ein Präzedenzfall für die Zukunft werden kann, müssen alle Verfahren, die es mit »Verbrechen an der Menschheit« zu tun haben, an einem Maßstab gemessen werden, der heute noch nicht mehr ist als ein »Ideal«. Wenn Völkermord im tatsächlichen Bereich zukünftiger Möglichkeiten liegt, dann kann kein Volk der Erde – am wenigsten natürlich das jüdische Volk, in Israel oder anderswo – sich darauf verlassen, daß die bestehenden politischen Einrichtungen ihm die Kontinuität der Existenz ohne einen völkerrechtlich gesicherten Anspruch und den Schutz internationaler Gesetze garantieren. Erfolg oder Versagen in der Behandlung des bisher Beispiellosen kann nur danach beurteilt werden, ob das Verfahren imstande ist, ein gültiges Präjudiz auf dem Wege zu einem internationalen Strafrecht zu schaffen. Diese Forderung an die Richter in solchen Prozessen schießt nicht über das Ziel hinaus und verlangt nicht mehr, als vernünftigerweise erwartet werden kann. Das Völkerrecht ist, wie Richter Jackson in Nürnberg betonte, »aus zwischenstaatlichen Verträgen und Übereinkünften erwachsen und aus der Anerkennung bestimmter Bräuche. Und jeder Brauch ist einmal aus einer bestimmten Handlung entsprungen … Auch wir haben das Recht, Bräuche zu stiften und Übereinkünfte zu treffen, die dann ihrerseits zu Quellen eines neuen und mächtigeren Völkerrechts werden«. Was Richter Jackson in diesen Ausführungen zu den Nürnberger Prozessen zu sagen versäumte, ist, daß damit auf Grund des erst in seiner Entstehung begriffenen Völkerrechts gewöhnlichen Strafrichtern die Aufgabe aufgebürdet wird, ohne die Hilfe positiver Gesetze oder über die Grenzen des gesetzten Rechts hinaus Recht zu sprechen. Der Richter, der gewohnt ist, die bestehenden Gesetze einfach anzuwenden, gerät damit in eine mißliche Lage, und es ist nur zu wahrscheinlich, daß er einwenden wird, es sei nicht an ihm, den Gesetzgeber zu spielen – was Jackson in der Tat von ihm verlangt hat.
Will man schließlich über die Leistungen und Fehlleistungen des Jerusalemer Prozesses unter diesem allgemeinen Gesichtspunkt ins klare kommen, so muß man vorausschicken, daß die Richter in der Tat der festen Überzeugung waren, daß sie unter keinen Umständen sich auf irgendwelche Neuerungen einlassen oder gar Gesetzgeber spielen dürften; so wie sie es verstanden, hatten sie ihre Aufgabe innerhalb der Grenzen des israelischen Landesrechts auf der einen und der allgemein anerkannten juristischen Prinzipien auf der anderen Seite zu erfüllen. Auch ist ohne weiteres zuzugeben, daß das Versagen des Prozesses weder im Charakter noch im Ausmaß größer war als das Versagen der Nürnberger oder der Nachfolgeprozesse in anderen europäischen Ländern. Ein großer Teil der Jerusalemer Mißlichkeiten war im Gegenteil gerade eine Folge davon, daß der Gerichtshof sich, wo nur immer möglich, auf diese Prozesse unkritisch als auf gültige Präzedenzfälle berief. Zusammenfassend ist zu sagen, daß es dem Jerusalemer Gericht nicht gelang, drei grundsätzlichen Problemen, die sämtlich seit den Nürnberger Prozessen hinreichend bekannt und weithin diskutiert worden waren, gerecht zu werden: der Beeinträchtigung der Gerechtigkeit und Billigkeit in einem Gerichtshof des Siegers, der Klärung des Begriffes von »Verbrechen an der Menschheit« und dem neuen Typus des Verwaltungsmörders, der in diese Delikte verwickelt ist.
Was den ersten Punkt betrifft, so war das Verfahren in Jerusalem anfechtbarer als in Nürnberg, weil das Gericht Belastungszeugen nicht zuließ. Prozessual gesehen, war dies der schwerwiegendste Fehler des Jerusalemer Prozesses. Auch war die Aburteilung durch einen aus Siegern bestehenden Gerichtshof unmittelbar nach Beendigung des Krieges verständlicher und berechtigter – »entweder«, so hatte Richter Jackson in Nürnberg gemeint, »müssen die Sieger die Besiegten richten, oder wir müssen die Besiegten sich selbst richten lassen«, wozu noch das verständliche Gefühl der Alliierten kam, daß »sie, die alles
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