Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)
anläßlich der ersten Lesung des Gesetzes von 1950 in der Knesseth, hatte Rosen bereits gesagt, daß die bloße Tatsache, daß Israel sein eigenes Gesetz für einen solchen Prozeß besitzt, Ausdruck »der revolutionären Wandlung sei, die sich in der politischen Stellung des jüdischen Volkes vollzogen hat«.) Jedenfalls kann man Ben Gurions Reaktion: »Israel braucht nicht den Schutz eines internationalen Gerichtshofs« und das darin liegende Mißverständnis nur verstehen, wenn man sich diesen Hintergrund an geschichtlicher Erfahrung und politischen Aspirationen vergegenwärtigt.
Entscheidend war freilich eine andere Seite der Sache. Der Einwand, daß das Verbrechen an dem jüdischen Volk in erster Linie ein Verbrechen an der Menschheit gewesen sei, auf den sich alle wirklich überzeugenden Argumente für einen internationalen Gerichtshof stützten, stand in flagrantem Widerspruch zu dem Gesetz, auf Grund dessen Eichmann vor dem jerusalemer Gericht stand. Daher hätten diejenigen, die vorschlugen, Israel solle den Angeklagten einer höheren Instanz ausliefern, einen Schritt weitergehen und erklären müssen: Das Gesetz zur Bestrafung der Nazis und ihrer Helfershelfer von 1950 ist unangemessen, es steht im Widerspruch zu dem, was wirklich geschehen ist, und wird den Tatbeständen nicht gerecht. Das stimmt in der Tat. Denn genauso wie ein Mörder nicht darum strafrechtlich verfolgt wird, weil er die Familie Schmidt des Gatten, Vaters und Brotverdieners beraubt hat, sondern weil er sich gegen das Gesetz der Gemeinschaft, dem sie alle, Mörder und Ermordete und Hinterbliebene, angehören, vergangen hat, so müssen diese neuen administrativen Massenmörder vor Gericht gestellt werden, weil sie die Ordnung der Menschheit verletzt haben und nicht weil sie Millionen von Menschen getötet haben. Nichts ist verderblicher für ein Verständnis dieser neuen Verbrechen und steht der Herausbildung eines internationalen Strafrechts, das sich mit ihnen befassen müßte, mehr im Wege als die weitverbreitete Meinung, daß Mord und Völkermord im Grunde die gleichen Verbrechen seien und daß darum der staatlich organisierte Völkermord »kein neues Verbrechen« darstelle. Das Merkmal des letzteren ist, daß eine gänzlich andere Ordnung zerstört und eine gänzlich andere Gemeinschaft verletzt wird. Und weil Ben Gurion sehr gut wußte, daß die ganze Diskussion in Wirklichkeit die Angemessenheit des israelischen Gesetzes in Frage stellte, reagierte er schließlich nicht nur heftig, sondern grob auf die Befürworter eines internationalen Gerichtes: Was immer diese »sogenannten Sachverständigen« zu sagen hätten, ihre Argumente seien die »Sophismen« von Antisemiten oder, im Falle von Juden, von Leuten mit Minderwertigkeitskomplexen. »Die Welt soll wissen: Wir werden unseren Gefangenen nicht hergeben.«
Dies war nun Gott sei Dank keineswegs der Ton, in dem in Jerusalem verhandelt wurde. Aber es läßt sich wohl mit Sicherheit voraussagen, daß dieser letzte der Nachfolgeprozesse nicht mehr, vielleicht sogar weniger als seine Vorgänger als Präjudiz für künftige Aburteilungen solcher Verbrechen wird dienen können. Dies mag angesichts der Tatsache, daß sein Hauptzweck – Adolf Eichmann anzuklagen und zu verteidigen, abzuurteilen und zu bestrafen – erreicht wurde, kaum ins Gewicht fallen, es sei denn, man ist sich der sehr beunruhigenden und doch kaum wegzuleugnenden Möglichkeit bewußt, daß in der Zukunft ähnliche Verbrechen begangen werden können. Hierfür gibt es Gründe allgemeiner wie sehr konkreter Art. Es liegt in der Natur menschlicher Angelegenheiten, daß, ist eine Tat erst einmal in Erscheinung getreten und in der Geschichte der Menschheit verzeichnet worden, sie potentiell in der Menschheit fortbestehen bleibt, auch wenn ihre Aktualität längst in die Vergangenheit gesunken ist. Keine Strafe hat je genügend Abschreckungskraft besessen, um die Begehung von Verbrechen zu verhindern. Im Gegenteil, wie hart die Strafe auch sei, wenn ein spezifisches Verbrechen erst einmal begangen ist, ist seine Wiederholung wahrscheinlicher, als sein erstes Auftreten je war. Und die konkreten Gründe, die für die Möglichkeit einer Wiederholung der von den Nazis begangenen Verbrechen sprechen, sind sogar noch einleuchtender. Die erschreckende Koinzidenz der modernen Bevölkerungsexplosion mit den technischen Erfindungen der Automation einerseits, die große Teile der Bevölkerung als Arbeitskräfte »überflüssig« zu
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