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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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wie viele und daß diese vielen weder pervers noch sadistisch, sondern schrecklich und erschreckend normal waren und sind. Vom Standpunkt unserer Rechtsinstitutionen und an unseren moralischen Urteilsmaßstäben gemessen, war diese Normalität viel erschreckender als all die Greuel zusammengenommen, denn sie implizierte – wie man zur Genüge aus den Aussagen der Nürnberger Angeklagten und ihrer Verteidiger wußte –, daß dieser neue Verbrechertypus, der nun wirklich hostis generis humani ist, unter Bedingungen handelt, die es ihm beinahe unmöglich machen, sich seiner Untaten bewußt zu werden. In dieser Hinsicht war das Beweismaterial im Fall Eichmann sogar noch überzeugender als in den Prozessen gegen die Haupt kriegsverbrecher, deren Aussage, sie hätten ein reines Gewissen gehabt, leichter abgetan werden konnte, da sie es infolge ihres Ranges mit dem Argument des Gehorsams gegenüber »Befehlen von oben« nicht bewenden ließen und sich auch noch rühmten, gelegentlich den Gehorsam verweigert zu haben. Aber obgleich der böse Wille der Angeklagten deutlich war, konnte man Ihnen das gesetzlich erforderte »Schuldbewußtsein« – mens rea – nur dadurch nachweisen, daß man sich auf die verzweifelten Versuche der Nazi-Bürokratie und besonders der Organisationen, zu denen Eichmann gehörte, berief, in den letzten Monaten des Krieges die Spuren ihrer Verbrechen zu tilgen. Und da bewegte man sich nicht auf sehr sicherem Grund. Es ließ sich damit nämlich nicht mehr nachweisen als ein Bewußtsein davon, daß das Gesetz des Massenmords wegen seiner Neuigkeit noch nicht von anderen Nationen anerkannt wurde, oder, in der Sprache der Nazis, daß sie ihren Kampf um die »Befreiung« der Menschheit von der »Herrschaft der Untermenschen« und besonders von der Herrschaft der »Weisen von Zion« verloren hatten; kurz: es bewies nicht mehr als das Eingeständnis der Niederlage. Wem von ihnen hätte das Gewissen geschlagen, wenn sie gewonnen hätten?
    Nun gehörte diese Frage des Schuldbewußtseins zweifellos zu den zentralen Problemen, die der Eichmann-Prozeß aufwarf, da ja alle modernen Rechtssysteme davon ausgehen, daß ein Unrechtsbewußtsein zum Wesen strafrechtlicher Delikte gehört. Es ist der Stolz zivilisierter Rechtsprechung, den subjektiven Faktor immer mit in Rechnung zu stellen. Wo die Absicht, Unrecht zu tun, fehlt, wo, aus welchen Gründen immer, z. B. wegen moralischer Unzurechnungsfähigkeit, der Angeklagte nicht in der Lage war, zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, gilt die Tat als strafrechtlich nicht faßbar. »Daß ein großes Verbrechen der Natur Gewalt antut und die Erde selbst nach Vergeltung schreit; daß das Böse eine naturgegebene Harmonie zerstört, die nur durch Sühne wiederhergestellt werden kann; daß Unrecht der betroffenen Gruppe um der moralischen Ordnung willen die Pflicht auferlegt, den Schuldigen zu bestrafen« (Yosal Rogat) – all das sind für uns antiquierte Vorstellungen, die wir als barbarisch ablehnen. Und dennoch, scheint mir, läßt sich kaum leugnen, daß Eichmann auf Grund solcher längst vergessenen Vorstellungen überhaupt vor Gericht kam und daß sie allein schließlich die Todesstrafe rechtfertigen. Er konnte nicht länger auf der Erde unter den Menschen bleiben, weil er in ein Unternehmen verwickelt war, das zugegebenermaßen gewisse »Rassen« für immer vom Erdboden verschwinden lassen wollte. Und wenn zutrifft, daß »Recht nicht nur geschehen, sondern sichtbar geschehen muß«, dann wäre die Rechtmäßigkeit dessen, was in Jerusalem getan wurde, manifest geworden, wenn die Richter es gewagt hätten, an den von ihnen Angeklagten etwa die folgenden Worte zu richten
    »Sie haben das während des Krieges gegen das jüdische Volk begangene Verbrechen das größte Verbrechen der überlieferten Geschichte genannt, und Sie haben Ihre Rolle darin zugegeben. Sie haben hinzugefügt, daß Sie nie aus niederen Motiven gehandelt, die Juden niemals gehaßt hätten und daß Sie dennoch nicht anders hätten handeln können und sich bar jeder Schuld fühlten. Dies ist schwer zu glauben, aber es ist nicht völlig unmöglich, daß Sie ungefähr die Wahrheit sagten; in dem uns vorgelegten Beweismaterial findet sich einiges, nicht sehr vieles, das zweifelsfrei gegen Ihre Darstellung in Fragen des Gewissens, der Motivation und des Schuldbewußtseins bei den von Ihnen begangenen Verbrechen spricht. Sie haben auch gesagt, daß Ihre Rolle in der ›Endlösung der

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