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Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition)

Titel: Eichmann in Jerusalem: Ein Bericht von der Banalität des Bösen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hannah Arendt
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schließen. Das Verbrechen der Nürnberger Gesetze war ein nationales Verbrechen; es verletzte die in der deutschen Verfassung garantierten Rechte und Freiheiten einer Gruppe von Staatsbürgern, ging aber die Gemeinschaft der Nationen nichts an. »Forcierte Auswanderung« jedoch oder Vertreibung, wie sie nach 1938 zur offiziellen Politik wurde, betraf die internationale Gemeinschaft, weil die Vertriebenen selbstverständlich an den Grenzen anderer Länder erschienen, die damit gezwungen wurden, die ungebetenen Gäste entweder aufzunehmen oder sie in ein drittes Land zu schmuggeln, das ebensowenig gewillt oder verpflichtet war, sie hereinzulassen. Vertreibung von Staatsangehörigen ist, mit anderen Worten, bereits ein Delikt gegen die Menschheit, wenn wir unter »Menschheit« nicht mehr verstehen als die Gemeinschaft der Nationen. Weder das nationale Verbrechen der legalisierten Diskriminierung noch das internationale Verbrechen der Vertreibung waren eigentlich neu oder beispiellos, nicht einmal in der Moderne. Legale Diskriminierung war in allen Balkanländern gang und gäbe, und Massenvertreibungen sind die Folge aller Revolutionen im 20. Jahrhundert gewesen. Erst als das Naziregime erklärte, das deutsche Volk dulde nicht nur keine Juden in Deutschland, sondern gedächte das jüdische Volk überhaupt vom Erdboden verschwinden zu lassen, trat das neue Verbrechen hervor, das Verbrechen an der Menschheit im eigentlichen Sinne, nämlich an dem »Status des Menschseins« oder an dem Wesen des Menschengeschlechtes. Vertreibung und Völkermord sind zwar beides internationale Vergehen, müssen aber voneinander unterschieden werden; die Vertreibung verletzt die Gebietshoheit der Nachbarstaaten, während der Völkermord einen Angriff auf die menschliche Mannigfaltigkeit als solche darstellt, also auf ein Wesensmerkmal des Menschseins, ohne das wir uns Dinge wie Menschheit oder Menschengeschlecht nicht einmal vorstellen können.
    Hätte das Gericht in Jerusalem verstanden, daß Diskriminierung, Austreibung und Völkermord nicht einfach dasselbe sind, dann wäre sofort klargeworden, daß das größte Verbrechen, mit dem es konfrontiert war, die physische Ausrottung des jüdischen Volkes, ein Verbrechen gegen die Menschheit war, verübt am jüdischen Volk, und daß nur die Wahl der Opfer, nicht aber die Natur des Verbrechens aus der langen Geschichte von Judenhaß und Antisemitismus abgeleitet werden konnte. Insofern die Opfer Juden waren, war es nur recht und billig, daß das Verfahren vor einem jüdischen Gerichtshof stattfand; aber insoweit das Verbrechen ein Verbrechen an der Menschheit war, hätte es eines internationalen Tribunals bedurft, um in dieser Sache Recht zu sprechen. (Daß das Gericht es unterließ, diese Unterscheidung zu machen, war überraschend, denn der ehemalige israelische Justizminister, Pinchas Rosen, hatte bereits 1950 auf den Unterschied zwischen diesem »Gesetzesentwurf zur Bestrafung von Verbrechen gegen das jüdische Volk und dem Gesetz zur Verhinderung und Bestrafung von Völkermord« hingewiesen.) Unter den zahlreichen und zudem sehr angesehenen Stimmen, die Bedenken gegen das Jerusalemer Gericht erhoben und auf die Errichtung eines Internationalen Gerichtshofs zum Zwecke der Aburteilung Eichmanns drängten, befand sich doch nur ein Mann, Karl Jaspers, der in einem Rundfunkinterview vor Beginn des Prozesses, das später im »Monat« gedruckt wurde, klar und unzweideutig erklärte, daß das »Verbrechen gegen die Juden zugleich ein Verbrechen gegen die Menschheit« war und daß »das Urteil darüber daher nur eine Instanz vertreten kann, die die Menschheit vertritt«. Jaspers schlug vor, daß das Jerusalemer Gericht nach Anhören des Tatsachenmaterials auf eine Urteilsfindung »verzichte«, sich für »unzuständig« erkläre, weil juristisch weder die Frage geklärt sei, um was für Verbrechen es sich hier eigentlich handelt, noch die weitere Frage, wer zuständig sei, über solche im Staatsauftrag begangenen Verbrechen zu urteilen. Sicher sei nur, daß es sich »hier einerseits um mehr, andererseits um weniger als um Mord im üblichen Sinne« und nicht um »Kriegsverbrechen« handelt, daß aber »die Menschheit sicher zugrunde gehen würde, wenn Staaten solche Verbrechen ausführen dürfen«. Jaspers’ Vorschlag, für den sich gerade in Israel niemand auch nur ernsthaft interessierte, wäre in dieser Form vermutlich rein formell unmöglich gewesen. Die Frage, ob ein Gericht zuständig ist oder

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