Der Geruch von Blut Thriller
D er Geruch von Blut. Finn hält die Hand vor die Nase, aber es ist schon zu spät. Fast zärtlich durchdringt er ihn, erst wie ein Streicheln, dann stechend tief. Ein feuchtes Rot glüht in seinem Kopf. »Ah …« Das nächste Wort wäre »verdammt«, aber er bekommt es nicht über die Lippen. Erinnerungen drängen in sein Bewusstsein. Die Aura von Farbe und Bewegung verdichtet sich, wird klarer und nimmt allmählich Form an.
Es ist seine Frau Danielle am Morgen ihres zwölften Hochzeitstags. Sie steht nackt am Herd, wirft einen Blick über ihre sommersprossige Schulter und fragt: »Pfannkuchen oder French Toast?« Noch nass vom Duschen beugt er sich vor, schmiegt sich an ihren Hals, legt die Lippen auf ihren pochenden blauen Puls, fasst um ihre Taille nach dem straffen weichen Bauch und zieht sie auf den Küchenboden. Er mag es, die kalten italienischen Kacheln unter seinem Rücken zu spüren.
Der Blutgeschmack rinnt seine Kehle hinunter. Er hustet, und dann ist da noch ein anderes Geräusch, vielleicht ein Glucksen. Eine merkwürdig angenehme Erfahrung, fast vertraut, aber es macht ihm auch Angst. Die Ärzte sagen, das sei unmöglich. Seine Psychiaterin hält es für unwahrscheinlich, sie würde natürlich gern jeden Zweifel ausschließen und nestelt dabei an ihrem Taschentuch. Sie bekommt hundertfünfzig Dollar die Stunde - seiner Ansicht nach ist sie ihm den einen oder anderen
Zweifel schuldig, auch wenn er nur alle sechs bis acht Wochen kommt.
Sie alle räumen ein, der Geruchssinn sei eng mit dem Gedächtnis verknüpft, aber sie sagen auch, dass frisches Blut nicht riecht, weil es noch nicht oxidiert ist. Und Finn spreche ja immer von ganz kleinen Mengen. Manchmal nur ein paar Tropfen.
Sie haben Recht. Er kennt sich aus mit Blut. Er weiß, wie es fließen, spritzen oder sprudeln kann. Wie es in Ritzen sickert, wie es schmeckt, sein eigenes oder fremdes. Er war überströmt davon und hat selbst schon einiges verloren.
Jesse Ellison hat sich an der scharfen Kante der metallenen Fensterbank geschnitten und grummelt leise vor sich hin, während sie versucht, das Fenster zu schließen. Sie ist sechzehn, ein Tollpatsch und eher schlaksig, wie man an ihrem unbeholfenen Gang hört. Sie schleift mit den Füßen über den Boden, kommt häufig zu spät und platzt dann, ein oder zwei Minuten, nachdem Finn mit dem Unterricht begonnen hat, ins Klassenzimmer.
Trotz ihrer Schlaksigkeit ist sie kräftig und muskulös und hat etwas Derbes an sich. Wenn sie ihn im Vorübergehen berührt - normalerweise aus Versehen, manchmal aber auch aus jugendlicher Verwirrtheit -, spürt er eine natürliche Stärke von ihr ausgehen. Sie zupft ihn am Ärmel, um ihm durch die Flure zu helfen, und versucht dauernd, ihn zu bemuttern.
Finn stellt sich vor, dass sie große Hände mit langen, plumpen Fingern hat. Die anderen Mädchen lachen über sie. Sie erträgt ihre Sticheleien mit einer Reife, wie sie kaum eine ihrer Mitschülerinnen hat.
Wenn er an sie denkt, sieht er die Tochter des Opfers eines Familiendramas vor sich, einer der letzten Fälle, mit denen er zu tun hatte. Vater und Mutter Radiologen, Penthouse in der Park Avenue. Der Mann fand heraus, dass seine Frau es mit dem Pförtner und dem Fensterputzer trieb, und brachte sie mit einem Abflussreiniger-Cocktail um. Während Finn seine Routinefragen stellte, lief das Mädchen durchs Wohnzimmer, auf dessen Wände Schwarz-Weiß-Bilder ihrer halbnackten Eltern in provokanten Posen gemalt waren, und stieß mit dem Ellbogen Fotos vom Klavier. Sie hatte ein offenes Gesicht, leere karamellbraune Augen und schlaffe Lippen. Dieses Bild hat Finn vor Augen, wenn er Jesse begegnet.
Eiskalte Luft kommt durchs Fenster und schlägt ihm ins Gesicht. Heute Abend schneit es bestimmt wie die Hölle.
Im zweiten Stock kann er gut hören, wie unten die Schülerinnen und ihre Familien die SUVs beladen und sich zum Abschied Frohe Weihnachten wünschen. Er erkennt die Stimmen mehrerer Väter von diversen Elterngesprächen. Sie haben alle etwas latent Genervtes.
Es sind berufstätige Männer, die ihren Töchtern eine Chance im Leben geben wollen, indem sie sie auf eine Privatschule schicken. Um das Schulgeld bezahlen zu können, machen sie zwanzig bis dreißig Überstunden und arbeiten am Wochenende, und jetzt müssen sie sich einen Tag freinehmen, um ihre Kinder abzuholen und sie für die Weihnachtsferien wieder mit nach Hause zu nehmen.
An ihrem langweiligen Gerede erkennt man, dass sie alle dieselben
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