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Ein allzu braves Maedchen

Ein allzu braves Maedchen

Titel: Ein allzu braves Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sawatzki
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auf. Wir hatten ein großes Haus mit einem riesigen Garten. Hinten war ein kleiner Weinberg, mein Vater war leidenschaftlicher Gärtner und wollte unbedingt eigenen Wein anbauen.« Sie lachte. »Hat aber meistens nicht geklappt, irgendwelche Schädlinge oder Bakterien haben die Ernte oft ruiniert.«
    Es war nicht erkennbar, warum sie so lange geschwiegen hatte und jetzt ein scheinbar normales Gespräch zu führen begann.
    »Was macht Ihr Vater beruflich?«, fragte Dr. Minkowa.
    »Er war Journalist. Er ist leider vor einiger Zeit gestorben. Meine Mutter auch. Sie kamen bei einem Autounfall ums Leben.« Die junge Frau senkte den Kopf und blickte zu Boden.
    »Das war schwer für Sie?«
    »Das war der schlimmste Moment meines Lebens, als ich die Nachricht bekam. Ich war zu Hause und machte gerade das Gästezimmer fertig, meine Eltern wollten mich für ein paar Tage besuchen. Dann klingelte es, und die Polizei stand vor der Tür.«
    Sie verstummte. »Ich möchte nicht darüber reden, nein.« Ihr Blick ging nach innen.
    »Natürlich nicht. Wann war das?«, fragte Dr. Minkowa vorsichtig.
    »Weiß nicht, vor einigen Jahren. Ich unterteile den Schmerz nicht in Zahlen. Er ist allgegenwärtig.«
    »Möchten Sie aus Ihrem Leben erzählen? Ich würde mich freuen, mehr über Sie zu erfahren. Wie heißen Sie?«
    Die junge Frau schwieg unbeirrt.
    »Wo sind Sie aufgewachsen?«
    »In Schwaben, später sind wir dann in ein größeres Haus in Bayern gezogen. Da war ich noch klein, vielleicht acht. Mein Vater hat mir ein Pony geschenkt, das stand hinten im Garten und hat meiner Mutter immer den Gemüsegarten zertrampelt. Es hieß Loretto.«
    »Ihre Mutter war nicht berufstätig?«
    »Nein, sie musste nicht arbeiten. Sie wollte immer für mich da sein und hat sich um das Haus und alles gekümmert. Wir hatten viel Besuch. Meine Mutter hat leidenschaftlich gern gekocht. Eigentlich hatten wir immer ein volles Haus. Das war manchmal ziemlich chaotisch, aber schön. Ich konnte auch immer Freundinnen einladen.«
    Die Psychiaterin überlegte kurz, dann fragte sie: »Erinnern Sie sich daran, wie Sie gestern früh in das Wäldchen gekommen sind?«
    »Also, so wie ich mich kenne, war ich wahrscheinlich feiern und hab dann die Orientierung verloren. Das passiert mir manchmal.«
    »Wie lautet Ihre Adresse? Wir haben keinen Ausweis bei Ihnen gefunden.«
    »Oh, wo hab ich den denn bloß gelassen?« Die junge Frau wirkte abwesend.
    Sie sah durch die Psychiaterin hindurch. Dann schien sie den ernsthaften Versuch zu unternehmen, sich zu erinnern. Nach einiger Zeit hob sie resigniert die Schultern.
    »Ich weiß es nicht. Es tut mir leid, ich kann mich an gar nichts mehr erinnern.«
    Panik trat in ihr Gesicht, und sie knetete ihre Hände.
    »Machen Sie sich keine Sorgen. Ich werde Ihnen helfen, sich zu erinnern. Wir werden gemeinsam herausfinden, was geschehen ist. Und bald werden wir sicher auch wissen, wo Sie wohnen und wer Sie sind. Sie können wieder nach Hause zurück.«
    »Das wäre ganz schön.«

7
Abends durfte sie duschen. Eine Pflegerin holte sie ab und brachte sie ins Untergeschoss. Dort befanden sich die Waschräume. Die Luft war feucht, es roch ein wenig modrig, denn die Abflüsse waren verstopft, und das schmutzige Wasser konnte nicht abfließen.
    Sie ekelte sich, aber nachdem die Pflegerin ihr ein Stück Seife in die Hand gedrückt und die Kabinentür hinter ihr geschlossen hatte, fühlte sie sich besser. Sie stellte sich unter den Brausekopf und drückte den Knopf in der Wand. Dann schloss sie die Augen, legte den Kopf in den Nacken und ließ sich das heiße Wasser übers Gesicht laufen.
    Sie erinnerte sich daran, wie sie als kleines Mädchen bei Regen aus dem Haus gelaufen war. Niemand hatte das damals verstanden. Sie war süchtig nach dem Regen gewesen, süchtig nach den dunklen Wolken und dem Grollen des Donners. Sie liebte die Einsamkeit, und bei schlechtem Wetter konnte sie sicher sein, dass sie kaum jemandem begegnen würde.
    Sie war ein stilles Kind gewesen. Zurückhaltend und wohlerzogen. Die Mutter hatte ihr Kleider genäht und Pullover für den Winter gestrickt und einen Tellerrock aus roter Wolle, der bis hoch zu ihren Hüften geflogen war, wenn sie sich im Kreis drehte. Sie hatte immer Tänzerin werden wollen. Oder Tierärztin. Oder Verkäuferin in einem Tante-Emma-Laden. Ihr Haar war dünn und rötlich, und manchmal hatte sie sich eine Wollstrumpfhose über den Kopf gestülpt und geträumt, die Beine, die seitlich an ihrem

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