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Ein allzu braves Maedchen

Ein allzu braves Maedchen

Titel: Ein allzu braves Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sawatzki
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sie nicht. Heute war ihr klar, dass ihre Mutter recht gehabt hatte.
    Sie hob den Kopf und beobachtete die kleine Fliege, die nun an der Zimmerwand hochlief. Sie rückte näher an das kleine Tier heran, es schien geschwächt zu sein und zeigte keine Reaktion. Sie nahm es behutsam zwischen zwei Finger und zerquetschte es.

SAMSTAG
    1
8
Ein Kratzen weckt sie auf. Jemand steht am Fenster und kratzt mit den Fingernägeln an die Glasscheibe. Sie liegt in ihrem Bett und rührt sich nicht, hält die Augen fest geschlossen. Er beobachtet sie. Sie muss sich schlafend stellen, sonst wird er nicht lockerlassen. Sie schwitzt und versucht nicht zu atmen, um besser hören zu können.
    Jemand machte sich an der Zimmertür zu schaffen. Der Schlüssel drehte sich langsam im Schloss, und mit einem satten Klacken wurde die Klinke heruntergedrückt. Dann öffnete sich die Tür, ein kleiner Windhauch fuhr über ihr verschwitztes Gesicht.
    Der intensive Geruch nach Schweiß, der sich sofort in dem kleinen Raum ausbreitete, machte die junge Frau beinahe glücklich. Vorsichtig öffnete sie die Augen und sah ihre Pflegerin, wie sie sich damit abmühte, das Frühstückstablett auf dem Tischchen abzustellen.
    »Zeit aufzustehen, um acht ist Duschen,« sagte die Pflegerin noch im Hinausgehen, dann schloss sie die Tür hinter sich.
    Langsam richtete die junge Frau sich auf und sah hoch zu dem kleinen Fenster. Niemand war zu sehen. Ihr Zimmer lag im vierten Stock, das fiel ihr jetzt
ein.
    Nach dem Duschen durfte sie in die Bibliothek. Sie lieh sich ein Buch aus. Eine Liebesgeschichte. Vorher hatte sie hinten nachgesehen, ob sie gut ausging. Happy Ends mochte sie nicht. Dieser Roman endete unglücklich, sie nahm ihn mit in ihr Zimmer und las ihn innerhalb weniger Stunden.
    Verweint und wortkarg erschien sie nachmittags im Therapieraum.
    »Warum lesen Sie ein trauriges Buch, wenn es Ihnen so wehtut?«
    »Ich fühle mich dann nicht mehr so allein.«
    »Sie erkennen, dass es auch andere Menschen außer Ihnen gibt, die traurig sind?«
    »Ja.«
    »Als Sie vor einigen Tagen hier ankamen, wirkten Sie nicht so niedergeschlagen. Können Sie mir nicht jemanden nennen, den ich informieren kann, dass Sie hier sind? Dann könnten Sie Besuch empfangen.«
    »Nein.«
    »Leben Sie in München?«
    »Warum?«
    »Es wäre hilfreich zu wissen, wer Sie sind.«
    »Hilfreich für wen?«
    »Letzten Endes für uns alle. Vielleicht möchten Sie ja rasch wieder nach Hause, das geht aber nur, wenn Sie Ihre Identität preisgeben.«
    »Ja, ich lebe in München.«
    Sie beobachtete ihre nackten Zehen. Seit ihrer Einlieferung hatte sie sich geweigert, Strümpfe und Schuhe anzuziehen.
    »Warum wollen Sie keine Schuhe tragen?«
    »Dann bin ich schneller.«
    »Schneller? Wovor müssen Sie denn weglaufen?«
    »Vor mir.«
    Die Psychiaterin hielt inne und beobachtete die junge Frau. Sie hatte sich verändert. Ihre Bewegungen wirkten langsamer. Das Gesicht war bleich und ein wenig aufgedunsen, aber ihre Augen bewegten sich ununterbrochen hin und her. Als müsse sie auf der Hut sein vor etwas, das sie verfolgte.
    »Sie wirken nervös. Fürchten Sie sich vor etwas? Fühlen Sie sich verfolgt?«
    »Nein. Ich kann nur nachts nicht schlafen.«
    »Ich könnte Ihnen ein Beruhigungsmittel verschreiben.«
    »Das hilft bei mir nicht mehr.«
    »Nehmen Sie häufig Tabletten?«
    »Ich habe so ziemlich alles geschluckt, was es gibt.«
    »Warum?«
    »Um zu schlafen.«
    »Warum sind Sie müde? Was strengt Sie so an?«
    »Ich muss so viel vergessen.«
    »Können Sie mir sagen, was zum Beispiel?«
    »Die Dunkelheit in mir.«

1
9
Sturm ist aufgezogen. Er rüttelt an den Fensterläden und pfeift durch den Kamin. Leise klimpern die Perlmuttplättchen ihrer Nachttischlampe. Auf der Terrasse poltert es in regelmäßigen Abständen, wahrscheinlich schlagen die Gartenstühle gegeneinander.
    Sie ist elf Jahre alt. Um neun Uhr hat sie ihn ins Bett gelegt, ihm eine Wärmflasche gemacht, ihm Valium und warmes Bier eingeflößt. Er wirkte ruhig und zufrieden auf sie. Sie ist stolz auf sich. Kurz darauf liegt sie in ihrem Bett, warm eingekuschelt und das Steiff-Hündchen fest im Arm.
    Da hört sie ein leises Kratzen. Zuerst denkt sie, es komme von draußen, ein Ast scheuere an den Fensterläden. Sie richtet sich auf und sieht eine Gestalt hinter der Glastür. Die Gestalt steht reglos da.
    Ein eisiger Schauer läuft ihr über den Rücken, die Angst raubt ihr den Atem. Das Heulen des Sturms ist inzwischen

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