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Ein allzu braves Maedchen

Ein allzu braves Maedchen

Titel: Ein allzu braves Maedchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Sawatzki
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ihrer Oberlippe, an ihrem Rücken. Sie liegt reglos und ruft nach ihrer Mutter. Aber die Mutter ist nicht da. Jetzt ist sie also allein. Mit dem Vater, aber der kann es nicht sein, der die Geräusche macht. Er ist schon lange tot. Es ist niemand außer ihr in der Wohnung. Plötzlich hört sie das Seufzen der Türklinke am Ende des Flurs. Stille. Dann noch ein Geräusch. Ein rhythmisches Schleifen. Sehr langsam, in immer gleichen Abständen. Das Schlurfen von Schritten, die sich langsam ihrem Zimmer nähern. Sie kennt das Geräusch und will fliehen, aber sie ist wie gelähmt.
    Die Schritte kommen immer näher, dann verstummen sie vor dem Zimmer, und durch das Glas der Tür erkennt sie die Umrisse einer Gestalt. Obwohl es eben noch dunkel war, kann sie jetzt die Türklinke erkennen, wie sie langsam nach unten gedrückt wird. Dann klackt es, und die Tür öffnet sich.
    Die Gestalt nähert sich mit schleppenden, scharrenden Schritten ihrem Bett und verharrt gleich davor. Sie spürt, wie die Bettdecke von ihrem Körper gezogen wird. Ganz sacht. Ganz langsam. Bis sie es nicht mehr aushält und zu ihrer kleinen Nachttischlampe greift und Licht macht.
    Vor ihr steht der Vater und sieht sie durch seine Brille mit kurzsichtigen blauen Augen an. Sein Gesicht ist ausdruckslos. Sie weiß nicht, was er von ihr will. Sie versucht, lieb zu ihm zu sein, um ihn nicht aufzuregen, und sagt:
    »Hallo, Papa«, als wäre nichts ungewöhnlich daran, dass er nachts in ihrem Zimmer steht. Wenn sie sich verstellt und nett zu ihm ist, tut er ihr nichts. Aber heute scheint es nicht zu funktionieren, denn er lächelt und schüttelt langsam den Kopf. Als habe er ihr Spiel durchschaut. Und während sie noch dasitzt und sich fragt, ob sie träumt, er ist doch tot, hört sie Orgelmusik wie in einer Kirche, und der ganze Raum ist erleuchtet von Dutzenden Kerzen. Und über ihrer Zimmertür hängt Jesus an seinem Kreuz und schluchzt, und die Engelchen sind winzig klein und fliegen ihr ständig ins Gesicht wie hartnäckige Fliegen. Ihr ist kalt, und sie blickt an sich hinunter und sieht, dass sie nackt ist und voller Blut. Sie schaut zu ihrem Vater auf und sagt: »Bitte, Papa.« Aber er schüttelt immer noch den Kopf und lächelt wissend, und dann hebt er die Hand und bedeutet ihr mit dem Finger, ihm zu folgen.

FREITAG
    1
6
Am Freitagmorgen fand man die junge Frau nicht im Bett vor. Sie hatte sich zwischen die Beine ihres Stuhls gezwängt und kauerte dort in einer Art Embryonalhaltung. Die diensthabende Pflegerin versuchte sie aus ihrer Lage zu befreien. Aber die junge Frau versteifte sich, sie bewegte sich nicht und starrte auf einen fernen, unsichtbaren Punkt auf dem Fußboden.
    Später setzte sie sich wieder auf, aber das angebotene Essen rührte sie nicht an.
    Am Nachmittag brachte man sie in den Therapieraum. Dort starrte sie schweigend auf einen imaginären Punkt. Dr. Minkowa beobachtete sie eine Weile, dann fragte sie: »Was ist geschehen heute Nacht? Können Sie darüber sprechen?«
    Die Ärztin erhielt keine Antwort und überlegte, wie sie die junge Frau aus ihrer Erstarrung erlösen könne. Endlich stand sie auf, setzte sich neben die Patientin und legte ihr die Hand auf den Unterarm. Und begann ihn vorsichtig zu streicheln. Dazu flüsterte sie sehr leise Worte. Ihr zarter, kaum hörbarer Singsang durchdrang die gläserne Stille, und sie konnte spüren, wie sich die junge Frau entspannte, ganz allmählich. Schließlich begann sie leise zu weinen.

1
7
Der Abend senkte sich über das kleine Zimmer. Sie saß reglos in ihrer Ecke unterhalb des Fensters und beobachtete eine kleine Fliege. Draußen vor dem Fenster schneite es heftig, und sie fühlte fast so etwas wie Geborgenheit beim Anblick des Insekts, das den Winter draußen nicht überleben würde.
    Sie versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Irgendetwas war völlig durcheinandergeraten. Die Erinnerungen wirbelten durcheinander, und sie wusste nicht genau, welche Augenblicke der Realität entsprachen und welche sie sich nur einbildete. Sie empfand eine große Sehnsucht danach, ihr Leben vor sich ausgebreitet zu sehen. Um zu verstehen. Sie brauchte Klarheit.
    Vielleicht ließ die sich in den Gesprächen mit Dr. Minkowa finden.
    Sie kauerte auf dem Boden und legte sich schützend die Arme um den Kopf.
    Ihre Mutter hatte einmal im Streit zu ihr gesagt: »Hätte ich dich bloß nicht bekommen, dann wäre uns vieles erspart geblieben.« Damals hatte sie sich schuldig gefühlt, warum, das wusste

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