Ein allzu schönes Mädchen
Eintragungen. Sie alle
waren datiert und umfassten einen Zeitraum von nahezu drei Jahren.
Er begann zu lesen.
Nach einer Stunde hatte er alles überflogen. Die meisten der Aufzeichnungen berichteten von den ganz und gar durchschnittlichen
Erlebnissen eines heranwachsenden Mädchens: von Schulausflügen, vom Urlaub mit den Eltern, vom Wunsch nach einem Pferd und
von den kleinen Streitigkeiten unter Freundinnen. Es waren Begebenheiten, die jedes andere Mädchen in diesem Alter ebenso
hätte aufschreiben können. Dennoch war Marthaler nach seiner Lektüre wie elektrisiert. Denn zwischen all diesen Alltäglichkeiten
gab es immer wieder Notizen, die ihm zeigten, dass Marie-Louise Geissler in ihrer Kindheit Dinge erlebt hatte, die sich von
den üblichen Erfahrungen einer Heranwachsenden unterschieden. Marthaler |470| kramte einen Bleistift hervor und begann die Hefte erneut zu lesen. Diesmal strich er jene Passagen an, die ihm von Bedeutung
schienen.
Heute Morgen waren wir in der Gemeinde. Wir haben gesungen. Papa ist aufgestanden und hat laut für Omi gebetet. Ich war sehr
stolz auf ihn. Nachher standen wir vor dem Haus. Ich bin zu ihm gegangen und habe mich an ihn gelehnt. Er hat seinen Arm auf
meine Schulter gelegt. Er hat gelacht. Ich war sehr glücklich. Ich habe ihn gerochen. Zum Priester hat er gesagt, wie stolz
er auf «seine Große» ist.
…
Gestern war ich undankbar. Mama hat mir ein Kleid gekauft, das mir nicht gefällt. Ich bin in mein Zimmer gegangen und habe
mich eingeschlossen. Als Papa nach Hause kam, hat er mich gerufen. Er hat mich lange im kleinen Zimmer warten lassen. Er hat
gefragt, was ich mir dabei gedacht habe, aber ich habe geschwiegen. Er sagt, ich bin verstockt. Ich habe ihn gebeten, mich
zu schlagen. Ich habe um Vergebung gebeten. Und dass ich wieder Demut lerne. Nachher habe ich gebetet und geweint. Aus der
Küche habe ich noch lange die Stimmen meiner Eltern gehört. Ich wollte noch in der Bibel lesen, habe mich aber nicht mehr
getraut, das Licht anzumachen. Man sieht den Schein der Lampe durch den Türspalt.
…
Ich beginne zu lügen. Obwohl ich nicht die Unwahrheit sage, lügt mein Gesicht. Ich lächele, wenn ich wütend oder enttäuscht
bin. Ich belüge alle. Ich habe Gott schon oft darum gebeten, dass er mir die Kraft gibt, diese Sünde zu besiegen. Aber ich
mache es immer wieder.
…
|471| Mama sagt, dass ich mit Gott über alles reden kann. Aber das stimmt nicht. Es gibt Dinge, über die man mit niemandem reden
kann. Ich traue mich noch nicht einmal, sie aufzuschreiben. Ich habe sogar Angst, an diese Dinge zu denken.
…
Papa hat alle Spiegel in der Wohnung abgehängt. Er sagt, ich bin in einem Alter, wo die Gefahr besteht, dass ich eitel werde.
Ich bin ihm dankbar dafür. Ich merke es selbst. Er denkt, dass ich etwas mit Jungen mache.
…
Nach der Schule habe ich getrödelt. Als ich unten am Bach war, stand André auf einmal vor mir. Er hat gesagt, dass er mir
etwas zeigen will. Er hat gesagt, ich soll mich umdrehen und die Augen schließen. Dann hat er von hinten seine Hände auf meine
Brüste gelegt. Ich war sehr aufgeregt und habe mich sehr geschämt. Heute Abend hatte ich ein wenig Fieber.
…
Gestern Abend bin ich nach dem Geigenunterricht nicht nach Hause gegangen. Ich war im Jugendzentrum. Von Anja habe ich mir
Lippenstift und Wimperntusche geliehen und habe mich auf dem Mädchenklo geschminkt. Dann habe ich meine Bluse aus dem Rock
gezogen und sie über dem Nabel verknotet. Die Jungen haben mich angesehen und gegrinst. André hat mir zugelächelt. Ich habe
geraucht und Bier getrunken. Ich hatte ein schlechtes Gewissen, trotzdem hat es mir gefallen. Ich bin sehr trotzig. Ich habe
hinterher nicht mal ein Pfefferminz gelutscht. Mir ist alles egal. Als ich nach Mitternacht nach Hause kam, brannte in der
Küche noch Licht. Papa und Mama saßen am Tisch. Sie haben mich angesehen, ohne etwas zu sagen. Beide hatten verweinte Augen.
Ich bin in mein Zimmer gegangen und habe abgeschlossen. |472| Ich weiß, dass sie jetzt tagelang nicht mit mir sprechen werden. Aber sie werden für mich beten.
…
Mama hat gefragt, ob wir uns wieder versöhnen wollen. Ich weiß, dass Papa es ihr endlich erlaubt hat. Sie ist immer die Erste,
die sich wieder vertragen will, aber sie würde nie gegen seinen Willen kommen. Sie hat gesagt, dass wir doch nur ein gottgefälliges
friedliches Leben führen wollen. Und ob ich das nicht
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