Ein allzu schönes Mädchen
auch will. Ich habe genickt, ohne etwas zu sagen. Dann hat Mama lange
gebetet. Am Schluss haben wir beide geweint und uns umarmt.
…
Auf dem Schulhof hat Papa mich am Arm gepackt und mich in die Jungentoilette gezerrt. Er hat mich angeschrien und gefragt,
ob ich ihm etwas zu sagen habe. Ich wusste nicht, was los ist. Er hat mir mit der flachen Hand auf die Wange geschlagen. Dann
hat er auf die Wand gezeigt. Dort hatte jemand den Satz hingeschrieben: «Marie-Louise Geissler fickt mit André.» Ich werde
morgen meine Sachen packen und nie wieder nach Hause zurückkehren.
Marthaler klappte das letzte Heft zu. Er steckte es zu den anderen in seine Reisetasche. Er hatte nicht mehr die Kraft, über
das Gelesene nachzudenken. Er knipste die Lampe aus, zog die Decke bis ans Kinn, legte sich auf den Rücken und schlief augenblicklich
ein.
Am nächsten Morgen erwachte er früh. Kamphaus schlief noch, und er ließ ihn schlafen. Im Bad trank er einen Schluck Wasser
aus der Leitung. Er kleidete sich an. Dann schrieb er einen Zettel, den er auf den Küchentisch legte. Leise zog er die Wohnungstür
hinter sich ins Schloss.
Die Straßen waren noch leer, als er durch die Innenstadt |473| von Saarbrücken Richtung Süden fuhr. Kurz danach überquerte er die Grenze. In Sarreguemines hielt er an. Er setzte sich in
eine Bar, die gerade erst geöffnet wurde. Die Kellnerin gähnte, als sie ihm seinen Café au lait und das Croissant mit Butter
brachte. Zwei Lastwagenfahrer saßen an der Theke, rauchten und unterhielten sich über ein Fußballspiel, das sie am Abend zuvor
gesehen hatten.
Marthaler dachte über das Tagebuch Marie-Louise Geisslers nach. Er fragte sich, ob in dem, was er gelesen hatte, schon ein
Teil der Erklärung zu finden war für die Verbrechen, die in Frankfurt geschehen waren. Jedenfalls konnte eine solche Erziehung,
wie Marie-Louise sie erlebt hatte, nicht folgenlos bleiben für den Charakter eines Menschen. Er wusste: Wie Männer und Frauen
miteinander umgingen, das wurde oft schon in der Kindheit durch das Vorbild der Eltern mitbestimmt. Und dass jemand, der so
schön war wie Marie-Louise, niemals in Ruhe gelassen würde. Und Marthaler ahnte, welch fürchterlicher Kampf im Kopf, in der
Seele des Mädchens getobt haben musste, als es gemerkt hatte, dass die Liebe zu Gott und den Eltern nicht alles war. Und dann
noch der Versuch des Vaters, die ganze Familie auszulöschen, den Marie-Louise wohl nur durch einen Zufall überlebt hatte.
Das konnte nicht spurlos an der jungen Frau vorübergegangen sein. War sie vielleicht schon nach dem Unfall geistig verwirrt?
War das der Grund, warum sie nie in ihre Heimatstadt zurückgekehrt war, ja sich nicht einmal bei einer ihrer Freundinnen oder
bei Lieselotte Grandits gemeldet hatte?
Er wäre froh gewesen, mit Tereza über all das reden zu können. Aber er wusste auch, dass ein solches Gespräch rasch dazu geführt
hätte, dass sie über sich selbst, über ihr Verhältnis zueinander hätten sprechen müssen. Und er war sich nicht sicher, ob
er das schon gewollt hätte.
Als er sein Frühstück bezahlen wollte, merkte Marthaler, |474| dass er kein französisches Geld hatte. Die Kellnerin zeigte ihm auf der gegenüberliegenden Straßenseite einen Geldautomaten.
Auf der Nationalstraße 61 fuhr er weiter. Er wunderte sich, wie schnell er vorwärts kam. Nur langsam wurde der Verkehr dichter.
In Phalsbourg musste er halten, um auf die Karte zu schauen. Zum Glück hatte er daran gedacht, den großen Michelin-Atlas mitzunehmen.
Er verließ die Nationalstraße. Hinter Lutzelbourg wurde die Gegend bereits bergig. Rechts und links der kleinen, kurvigen
Straßen lagen dichte Wälder. Weil er sich nicht auskannte, fuhr er sehr vorsichtig. Mehrmals sah er im Rückspiegel, wie ein
nachkommendes Fahrzeug ihn anblinkte. Immer wieder rasten Autos mit gewagten Manövern an ihm vorbei. Wenn sich hinter ihm
eine Schlange gebildet hatte, hielt er kurz am Straßenrand und wartete, bis alle ihn überholt hatten.
Er dachte oft an Katharina während dieser Fahrt. Er war sich sicher, dass sie die Gegend gemocht hätte. Und dass sie ihn auf
tausend Dinge hingewiesen hätte. Auf den Frühnebel, der über einer Lichtung hing. Auf einen großen Greifvogel, der reglos
auf der Spitze eines Strommastes saß. Auf einen merkwürdig gewachsenen Baum. Oder auf ein schön gelegenes, kleines Haus am
Waldrand. Das nehmen wir, hätte sie dann
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