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Ein Baum wächst übers Dach

Ein Baum wächst übers Dach

Titel: Ein Baum wächst übers Dach Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nadolny
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See vor der Tür.»
    «Nun ja, aber doch wenigstens einen Kachelofen und Doppelfenster», sagte Leo. «Womöglich heirate ich eines Tages, und von meinen sechs Kindern haben dann mindestens drei gleichzeitig Keuchhusten. Die brauchen Luftveränderung, und wenn es da gerade Winter ist...»
    Mama lachte. «Meinetwegen, sieh einen Kachelofen vor, es gibt ja auch mal kühle Sommer. Das Holz holen wir uns vom Strand, da liegt genug», meinte sie optimistisch.
    Leo schlug noch einen kleinen Vorratskeller vor, in den man von der Küche aus durch eine Klappe im Fußboden hinunterstieg, kaum größer als ein Schrank, aber gleichmäßig temperiert.
    «Wozu denn?»
    «Für die Äpfel!»
    «Die sind doch erst im September reif, da sind wir längst wieder in der Stadt», wandte ich ein.
    «Man kann nie wissen», sagte Bruder Leo und schraffierte die Fußbodenklappe in den Küchengrundriß hinein.
    Dies wäre der Augenblick gewesen, in dem ich hätte ahnungsvoll erschauern müssen. In Wagneropern erklingt jeweils das passende Motiv, damit auch diejenigen erschauern können, die den Text nicht rechtzeitig verstanden haben. Im Leben ist das anders. Insbesondere bei mir. Ich erkenne mein Schicksal niemals, auch dann nicht, wenn es sozusagen schon mitten im Zimmer steht.
    So verabschiedete ich mich denn mit einem Kuß von Mama, ahnungslos, daß meine Zukunft schon begonnen hatte, und kehrte zu meinen wichtigen Privatangelegenheiten zurück.
    Die Privatangelegenheiten eines Backfisches sind ebenso albern wie unüberschaubar: ich stritt mich mit Freundinnen wegen nichts und wieder nichts, wartete atemlos auf Anrufe eines Tanzstundenjünglings, schrieb Aufsätze über Themen, von denen ich nichts verstand, zum Beispiel «Alles hohe Leben quillt aus Opfern», trug eine Mickymaus am Mantelaufschlag und konnte von Mama nur mit Mühe zurückgehalten werden, mir bei Sally Marx in der Barer Straße einen Halbschleier zu kaufen, um meiner Baskenmütze etwas Dämonisches zu geben. Abwesenden Blickes streifte ich die Wahlplakate an den Litfaßsäulen, auf denen Stahlhelme und Hakenkreuze vorkamen, die mich nichts angingen, sondern höchstens die Erwachsenen.
    Nachdem wir genügend Gründe für den Bau eines Sommerhauses beisammen hatten, brauchten wir nur noch einen Grund, auf dem es stehen sollte. Durch bäuerliche Freunde in Seeham fanden die Eltern einen. Sie kauften ihn sofort. Er lag außerhalb des Dorfes, was Leo zu der Bemerkung «Wir bauen einen Einödhof» veranlaßte. Mama stellte frohlockend fest, daß man auf einem so abgelegenen Anwesen nur die halbe Hundesteuer würde bezahlen müssen. In mäßiger Entfernung ging eine elektrische Leitung daran vorüber. Nicht so jedoch eine Wasserleitung. Als Bruder Leo erfuhr, was es kosten würde, vom Dorf bis zu uns hinaus eine Wasserleitung zu legen, murrte er, er sei nicht Ferdinand von Lesseps, und erkundigte sich nach weiteren Möglichkeiten der Wasserversorgung. Es wurde beschlossen, dem Beispiel unseres einzigen Nachbarn zu folgen und einen Brunnen zu graben. Eine Handpumpe würde das Grundwasser in ein dreihundert Liter fassendes Wasserreservoir unter dem Dach des Hauses befördern. Das Grundstück war billig, und erst Jahre später erfuhren wir, daß unser Kauf eine heimlich glimmende Fehde zwischen zwei Bauern wieder anfachte, weil jeder von ihnen ein Auge auf unser Stückchen Land geworfen hatte.
    «Los! Worauf warten wir? Unser Geld wird höchstens weniger, nicht mehr», eröffnete Bruder Leo eines Tages den Endkampf. «Der Zimmermeister in Seeham hat Bauholz liegen, das fünfundzwanzig Jahre gelagert hat, einfach ideal, das verzieht sich bestimmt nicht mehr. Den Plan zeichne ich mit einem Schulfreund von mir, der Architekt ist. Ich überwache die Erdarbeiten selber und helfe mit. Wir könnten schon diesen Sommer die Ferien draußen verbringen!»
    Wie gut ist es doch, wenn ein Bruder gerade keinen Beruf ausübt, weil auch in seinem Paß der verwaschene Begriff «Kaufmann» steht. So kann er zwischen gelegentlichen ausgedehnten Auslandsreisen in geschäftlichen Missionen in aller Ruhe Häuser bauen. Bruder Leo fuhr also hinaus nach Seeham, und wenn er wieder bei uns in München auftauchte, dann berichtete er vom Fortgang der Dinge in dürren Fachausdrücken, in die meine Phantasie nicht einhaken konnte. Undeutlich erinnere ich mich, ein kleines Kartonmodell des Sommerhauses auf Papas Schreibtisch gesehen zu haben. Das Mädchen Emma krümmte sich beim Staubwischen zu ihm nieder und

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