Ein Blatt Liebe
Küche:
»Rosalie! Rosalie!… Rasch, einen Arzt!… Mein Kind liegt im
Sterben!« Das Dienstmädchen Rosalie, welches
in einem Gelaß hinter der Küche schlief, schrie auf. Helene war
zurückgekommen. Sie lief im bloßen Hemde, ohne die Kälte dieser
eisigen Februarnacht zu fühlen. Wollte denn diese Rosalie ihr Kind
sterben lassen! Eine Minute war kaum verstrichen. Sie lief wieder
in die Küche und zurück in die Stube.
Und jäh, tastend, zog sie einen Unterrock an und warf ein Tuch
über die Schultern. Sie stieß an Möbel und füllte mit der Hast
ihrer Verzweiflung den Raum, in dem ein so tiefer Friede
geschlummert hatte. Dann eilte sie in Pantoffeln, die Türen hinter
sich offen lassend, die drei Stufen hinab, einzig von dem Gedanken
beherrscht, einen Arzt zur Stelle zu schaffen.
Als der Pförtner die Schnur gezogen hatte, fand sich Helene mit
summenden Ohren und wirrem Kopfe auf der Straße. Sie lief rasch die
Rue Vineuse hinab und läutete beim Doktor Bodin, der Jeanne bereits
behandelt hatte.
Ein Diener antwortete ihr endlich nach einer halben Ewigkeit,
der Doktor sei zu einer Niederkunft geholt worden. Sie kannte
keinen andern Arzt in Passy. Einen Augenblick lief sie die Straßen
auf und ab, die Augen auf die Häuser gerichtet. Ein eisiger Wind
wehte; sie ging mit ihren Pantoffeln auf einem leichten, am Abend
gefallenen Schnee. Und vor ihr stand immerfort das Kind, und der
angstvolle Gedanke, daß sie nicht sogleich einen Arzt fand, drohte
sie zu töten. Da, die Rue Vineuse wieder hinaufeilend, hängte sie
sich an einen Klingelzug. Sie wollte wenigstens fragen…
Als niemand zu kommen schien, klingelte sie von neuem. Der Wind
klatschte ihr den dünnen Rock um die Beine, und die Locken ihres
braunen Haares flatterten.
Endlich schloß ein Diener auf und sagte, daß
Herr Doktor Deberle schon zu Bett sei. Sie hatte also bei einem
Arzte geläutet! Der Himmel verließ sie nicht! Da schob sie den
Diener beiseite und trat ins Haus.
Sie wiederholte:
»Mein Kind, mein Kind liegt im Sterben! Sagen Sie ihm, er solle
kommen!«
Es war ein kleines Haus, überladen mit Vorhängen. Sie stieg ein
Stockwerk hinauf, im Kampf mit dem Diener. Auf alle Einwände
antwortete sie, daß ihr Kind im Sterben läge. In einem Zimmer
erklärte sie, hier warten zu wollen. Aber sobald sie nebenan den
Arzt aufstehen hörte, trat sie heran und sprach durch die Tür:
»Rasch, Herr Doktor, ich flehe Sie an … mein Kind
stirbt!«
Und als der Arzt im Hausrock, ohne Halsbinde, erschien, zog sie
ihn fort, ließ ihm nicht Zeit, sich anzukleiden. Er – hatte sie
erkannt. Sie wohnte im Nachbarhause und war seine Mieterin. Auch
Helene erinnerte sich jetzt, als er sie, den Weg abzukürzen, durch
eine Verbindungstüre zwischen den beiden Wohnhäusern nach dem
Garten führte.
»Ach! es ist ja wahr,« flüsterte sie, »Sie sind Arzt, und ich
wußte es… . Sehen Sie, ich bin schier von Sinnen. Ach bitte, bitte,
beeilen wir uns!«
Auf der Treppe wollte sie ihm den Vortritt lassen. Sie hätte den
lieben Gott selbst nicht höflicher bei sich einführen können! Oben
war Rosalie bei Jeanne geblieben und hatte die auf dem Schränkchen
stehende Lampe angezündet. Sobald der Arzt hereintrat, ergriff er
die Lampe und leuchtete nach dem Kinde, das noch immer in
schmerzvoller Starre dalag; bloß der Kopf hatte sich seitwärts geneigt, und rasche Zuckungen liefen über das
Gesicht. Eine Minute lang sagte der Arzt nichts, preßte nur die
Lippen zusammen. Helene schaute ihn angstvoll an. Als er diesen
flehentlichen Blick der Mutter sah, flüsterte er:
»Es wird nichts auf sich haben; aber hier dürfen wir sie nicht
lassen. Sie braucht Luft.«
Helene nahm die Kleine mit kräftigem Schwung auf die, Schulter.
Sie hätte dem Arzt für sein gütiges Wort die Hände geküßt, und ein
süßes Gefühl durchdrang sie. Aber kaum hatte sie Jeanne auf ihr
eigenes Bett gelegt, als der arme Körper des Kindes von heftigen
Krämpfen geschüttelt wurde. Der Arzt hatte den Schirm von der Lampe
entfernt; weißes Licht füllte das Zimmer. Er trat zum Fenster,
öffnete es und befahl Rosalie, das Bett aus den Vorhängen
herauszuschieben. Helene stammelte:
»Aber sie stirbt, Herr Doktor! Sehen Sie doch nur, sehen Sie
doch nur! … Ich erkenne sie nicht mehr wieder!«
Er gab keine Antwort, sondern verfolgte aufmerksam den Anfall.
Endlich sagte er:
»Treten Sie in den Alkoven! Halten Sie ihr die Hände, damit sie
sich nicht kratzt!… So, sanft, ohne Gewalt…
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