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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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Und dann überlegte sie, wann sie ihrer Mutter das letzte Mal einen Kuss gegeben hatte. An deren Geburtstag? Und wann hatte ihre Mutter ihr das letzte Mal einen Kuss gegeben? An ihrem Geburtstag? Nein, ihren letzten Geburtstag hatte sie ja in Ahrensdorf verbracht, ohne jemandem ein Wort davon zu sagen.
    Da hörte sie Rachel fragen: »Warum eigentlich wir? Warum nur wir neun?« Sie sprach leise, wohl um die anderen Fahrgäste nicht zu stören oder um nicht gehört zu werden, und Mira antwortete ebenso leise: »Weil wir alle neun staatenlos sind, wir haben weder einen deutschen Pass noch einen polnischen, sondern nur den Nansen-Pass * .«
    »Gott sei Dank«, sagte Rachel. »Sonst wären wir mit den anderen nach Polen zurückgeschickt worden.«
    Die beiden Mädchen schwiegen, nur das gleichmäßige Rattern der Räder war zu hören und die Stimmen von Rosa und Bella, die sich leise unterhielten. Ein Mann hustete und in einem Nachbarabteil schrie ein Kind, und Hannelore sah wieder den karminroten Gaumen mit den beiden weißen Zähnchen vor sich. Sie fragte sich verwundert, ob Rachel ihre kleine Schwester eigentlich lieb hatte oder ob sie ihr nur peinlich war.
    Sie lugte unter ihrer Jacke hervor und beobachtete Rachel. Die hatte sich zurückgelehnt und kaute nachdenklich auf dem Ende eines ihrer dünnen, rötlich blonden Zöpfe herum wie auf einer Brotrinde, während sie mit halb gesenkten Lidern vor sich hinstarrte. Bestimmt dachte sie jetzt an ihre Freundinnen, die im letzten Oktober innerhalb weniger Tage verschwunden waren, abgeholt von den Nazis, um mit ihren Familien nach Polen zurückgebracht zu werden, abgeschoben, weil sie die polnische Staatsbürgerschaft besaßen. In manchen Klassen der Höheren Israelitischen Schule hatte auf einmal fast die Hälfte der Schülerinnen und Schüler gefehlt.
    Hannelore schloss die Augen. Auch Janka war damals aus ihrem Leben verschwunden, ihre beste Freundin. Ihre einzige Freundin. Janka hatte nur ein paar Häuser von ihr entfernt gewohnt, sie hatten in der Schule nebeneinandergesessen, sie waren gemeinsam zur zionistischen Jugendgruppe gegangen, und sie hatten davon geträumt, später, in Palästina, im selben Kibbuz * zu leben. Janka wollte im Hühnerstall arbeiten und jeden Tag zwei Eier essen. Oder auch drei. Seit Oktober hatte Hannelore nichts mehr von ihr gehört. In den ersten Wochen hatte sie täglich auf einen Brief von Janka gewartet, aber es war nie einer gekommen. Nach Jankas Weggang hatte ihr die Schule keinen Spaß mehr gemacht, sie hatte sie gern verlassen, als die Leute vom Bund vorgeschlagen hatten, sie solle lieber mit den anderen Mädchen ihrer Gruppe auf die Hachschara gehen und etwas Nützliches lernen, etwas, was sie für Palästina brauchte. Von einem geregelten Schulunterricht könne sowieso nicht mehr die Rede sein, es gebe zu wenig Lehrer, zu wenig Schüler. Hannelore hatte leichten Herzens zugestimmt. Die Hachschara versprach die ersehnte Abwechslung in ihrem langweiligen Leben.
    Mit geschlossenen Augen ließ Hannelore sich auf ihren Gedanken treiben, fühlte sich wie eine Nussschale auf einem strudelnden Fluss, eine Nussschale, die kreiselte, herumgewirbelt wurde, kippte, sich wieder aufrichtete und ruhig dahinglitt, nur um in den nächsten Strudel gerissen zu werden.
    In Hamburg führte Mira, die auch die Fahrkarten und sämtliche Papiere in ihre Tasche gesteckt hatte, die Mädchen zum nächsten Zug, der sie nach Kiel bringen sollte, wo sie sich mit anderen Jugendlichen der Organisation treffen und gemeinsam die Fähre nach Dänemark nehmen sollten. Mira wirkte auf einmal viel ernster, viel erwachsener, von ihrer früheren Aufsässigkeit und Spottlust war nichts mehr zu merken. Es schien, als habe sie die Rolle ihres großen Bruders übernommen. Wie Joschka sagte sie den Mädchen, was sie zu tun hatten.
    Im Zug nach Kiel aßen sie ihre mitgebrachten Brote. Die Leberwurst roch so sehr nach zu Hause, dass Hannelore meinte, die Hausschuhe ihrer Mutter über den Küchenfußboden schlappen zu hören, das seltsame Nachklappen des rechten Schuhs, dessen Fersenkappe heruntergetreten war. Sie meinte auch zu hören, wie die Küchenschranktür auf- und wieder zugemacht wurde, das Knarren der Schublade mit dem Besteck. Auf einmal konnte sie die Hände ihrer Mutter sehen, wie sie den letzten Rest Leberwurst aus der Pelle schabte und auf das Brot schmierte. Das Gesicht sah sie nicht, nur diese seltsam feingliedrigen Finger mit den kurz geschnittenen Nägeln vor der

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