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Ein Buch für Hanna

Ein Buch für Hanna

Titel: Ein Buch für Hanna Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirjam Pressler
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schönen Sopran habe sie noch nie gehört, ein hebräisches Lied an, das sie auf der Hachschara gelernt hatten. Sofort fielen ein paar andere Mädchen ein. Doch Schula fuhr wütend auf sie los und brachte sie zum Schweigen. »Wir müssen nicht unbedingt auffallen«, zischte sie Rosa an, und als sie das erschrockene Gesicht des Mädchens sah, fügte sie etwas versöhnlicher hinzu: »Wir sind Gäste in diesem Land und müssen uns entsprechend verhalten, merkt euch das. Wo sollen wir denn hingehen, wenn sie uns hier nicht mehr haben wollen?«
    »Nach Palästina«, sagte der kleine, rothaarige Junge, der Mendel hieß, und ein älterer, ein hoch aufgeschossener mit dunklen Haaren und dunklen Augen, erklärte ihm, was sie alle längst wussten, nämlich dass die englische Regierung unter Chamberlain bestimmt hatte, dass nur noch fünfzehntausend jüdische Flüchtlinge pro Jahr nach Palästina einwandern dürften.
    »Na und? Wir sind doch bloß fünfundzwanzig«, sagte Mendel, und der andere unterbrach ihn: »Ja, aber es sind Hunderttausende, die auf der Flucht vor den Nazis sind, nicht nur in Deutschland. Auch im Osten wollen die Juden weg. In Polen soll es besonders schlimm sein. Außerdem haben alle Angst vor einem Krieg.«
    »Bla-bla-bla«, sagte Mendel und drehte ihnen den Rücken zu. Ein Sonnenstrahl ließ seine roten Haare aufleuchten wie Feuer.
    Die Berlinerin mit dem langen Zopf, von der Hannelore inzwischen wusste, dass sie Rebekka hieß, sagte: »Überall ist es so, und wenn man kein Geld hat, kriegt man kein Visum, um auszuwandern.« Und ein Mädchen aus einer anderen Gruppe fügte hinzu: »Auch mit Geld geht es fast nicht mehr. Keiner will uns haben.«
    Sie schwiegen. Was hätten sie auch sagen sollen? Nur Juden, die wirklich reich waren oder über die Grenzen hinaus bekannte Künstler oder Wissenschaftler, konnten damit rechnen, von anderen Ländern aufgenommen zu werden. Diese Argumente hatte sie in den letzten Monaten und Jahren schon oft genug gehört.
    Schließlich kam der Bus, sie luden ihre Sachen ein und fuhren los. Nachdem sie erst eine ganze Weile der Küstenlinie gefolgt waren, bog der Bus ins Landesinnere ab. Hannelore sah aus dem Rückfenster, wie das Meer langsam verschwand. Die Landschaft wurde hier, hinter den Dünen, flacher und grüner. Die Straße war auffallend gerade und führte durch Wiesen und Felder. Wälder waren keine zu sehen, nur vereinzelte Baumgruppen und Büsche und Sträucher. Das Getreide stand hier niedriger als in Ahrensdorf, und bei den meisten Feldern konnte Hannelore im Vorbeifahren nicht erkennen, was da wuchs, sie wollte es auch gar nicht wissen. Wenn sie schon nicht zu Hause sein konnte, wünschte sie sich, Palmen zu sehen, Olivenbäume, Orangenhaine und Kakteen, die, wie Helene geschrieben hatte, in Palästina so üppig wucherten wie in Deutschland die Brombeersträucher. Eine blaue Dämmerung senkte sich über die Landschaft, Wind kam auf und bewegte das Gras auf den Wiesen in türkisfarbenen Wellen. Hannelore lehnte sich zurück und schloss die Augen. Du hättest mich nach Palästina mitnehmen sollen, Helene, dachte sie, warum hast du mich nicht mitgenommen?
    Sie machte die Augen erst wieder auf, als der Bus, nachdem er über einen langen Feldweg gerumpelt war, endlich stehen blieb und alle ausstiegen. Sie waren in einem Zeltlager angekommen, auf dem zwischen vereinzelten Birken ein paar niedrige, barackenähnliche Steinhäuser und etliche große Zelte standen. Das Gelände wirkte öde und verlassen. Wieder ging Moritz in eines der Häuser, während sie draußen in der tiefer gewordenen Dämmerung warteten, schweigend und irgendwie bedrückt.
    »Los, Rosa, sing was«, sagte Rachel, aber Rosa schüttelte den Kopf.
    Schon bald kam Moritz mit einer Frau und einem Mann zurück. Die beiden lasen aus einer Liste ihre Namen vor, die durch den dänischen Akzent seltsam fremd klangen, und zeigten ihnen, wo die Toiletten, die Waschräume und die Küche mit dem angrenzenden Speisesaal waren. Hannelore fühlte sich entsetzlich fremd, sie lief wie ein Schoßhündchen hinter den anderen her und war froh und erleichtert, als ihr in einem der großen Zelte ein Schlafplatz zwischen Mira und Rachel zugewiesen wurde. Die Betten waren schmale Stoffpritschen mit Beinen aus Metall, aber auf jeder Pritsche lagen ein Kopfkissen und drei, vier Wolldecken. Im Speisesaal standen lange Tische mit einfachen Holzbänken, dort bekamen sie etwas zu essen, Brot und Käse und Hagebuttentee, dann wurde

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