Ein Drama in Livland
Jahre 1876. Der Gedanke, die baltischen Provinzen zu russifizieren, war bereits ein Jahrhundert alt. Katharina II. strebte schon eine durchgreifende nationale Reform an. Die Regierung traf ihre Maßregeln, die deutschen Körperschaften von der Leitung der Dörfer und Städte zu verdrängen. Die Wahl des Landesrates wurde der Gesamtheit der Bürger überlassen, die sich einer gewissen Bildung erfreuten und ein bestimmtes Vermögen oder Einkommen versteuerten. In den baltischen oder Ostsee-Provinzen, die jener Zeit neunzehnhundertachtzigtausend Einwohner zählten – in runden Zahlen: dreihundertsechsundzwanzigtausend in Esthland, eine Million in Livland und sechshundertsechzigtausend in Kurland – war das germanische Element nur durch vierzehntausend Edelleute, siebentausend Kaufleute und Großbürger, nebst fünfundneunzigtausend Kleinbürgern, der Rest waren Juden, im ganzen also durch hundertfünfundfünfzigtausend Seelen vertreten. Es konnte demnach unter Mitwirkung des Gouverneurs und der oberen Verwaltungsbeamten nicht schwierig »sein, eine slawische Mehrheit aufzubringen. Der Kampf galt diesmal der jetzigen städtischen Obrigkeit, deren einflußreichste Mitglieder jene Bankiers Johausen waren, die im Verlaufe unserer Erzählung eine hervorragende Rolle zu spielen berufen sind. –
Hier sei auch noch erwähnt, daß der Lehrer in dem Viertel, oder richtiger: der Vorstadt Rigas, worin die bescheidene Wohnstätte der Familie Nicolefs lag und die schon der Vater des Hausherrn innegehabt hatte, sich der größten Hochachtung erfreute. Freilich siedelten in dieser Vorstadt nicht weniger als achttausend Moskowiter.
Wir wissen schon, wie bescheiden – noch bescheidener als man im allgemeinen annahm – die Vermögenslage Dimitri Nicolefs war. Waren wohl diese Umstände daran schuld, daß Ilka noch nicht verheiratet war, obgleich sie das Alter von vierundzwanzig Jahren erreicht hatte? Ist es in Livland wie anderwärts, wenn man als Vermögen nur seine Schönheit aufweisen kann… wie in den Ländern Westeuropas, wenn die Mitgift eines jungen Mädchens nur aus ihrer Tugendhaftigkeit besteht, selbst dann, wenn diese ihrer Schönheit gleichkommt?… Nein; und vielleicht gerade in den slawischen Gesellschaftskreisen der Provinz ist das Geld keineswegs der hervorragendste Ehestifter.
Es wird dann also nicht wundernehmen, daß sich schon mehrere um Ilkas Hand beworben hatten, weit eher dagegen, daß Dimitri und seine Tochter verschiedene Verbindungen ausgeschlagen hatten, die in jeder Hinsicht ganz passend erschienen.
Das hatte jedoch seinen guten Grund: Seit mehreren Jahren war Ilka mit dem einzigen Sohne Michel Yanofs, eines Slawen und Freundes Dimitri Nicolefs, heimlich verlobt. Beide wohnten in derselben Vorstadt Rigas. Wladimir Yanof, jetzt ein Mann von zweiunddreißig Jahren, war ein talentvoller Rechtsanwalt. Trotz des Altersunterschiedes waren die beiden Kinder sozusagen zusammen aufgewachsen. 1872, vier Jahre vor dem Anfange dieser Erzählung, wo der junge Rechtsanwalt achtundzwanzig und das junge Mädchen zwanzig Jahre zählte, hatte man sich über die Verheiratung Ilkas mit Wladimir Yanof geeinigt und beschlossen, daß die Hochzeit noch im laufenden Jahre stattfinden sollte.
Beide Familien hatten darüber aber Schweigen bewahrt, so strenges Schweigen, daß auch die nächsten Freunde vorläufig nichts davon erfuhren. Als man später eben bereit war, ihnen die nötigen Mitteilungen zu machen, da… wurden alle schönen Pläne aufs schrecklichste vereitelt.
Wladimir Yanof gehörte nämlich einer jener geheimen Gesellschaften an, die sich in Rußland gegen die Selbstherrschaft des Zaren auflehnen. Dagegen stand er den Nihilisten völlig fern, die seit jener Zeit die moralische Propaganda durch die Propaganda der Tat ersetzt haben. Die verblendete moskowitische Regierung erkannte darin freilich keinen Unterschied. Sie geht, ohne auf gesetzliche Vorschriften Rücksicht zu nehmen, auf administrativem Wege vor, angeblich gezwungen, »zu verhindern, daß etwas unternommen werde«, wie die klassische Redeweise lautet. In vielen Städten des Reiches wurden Verhaftungen vorgenommen. Das war auch in Riga der Fall, und Wladimir Yanof, den man gewaltsam aus seiner Wohnung wegschleppte, wurde nach den Minen von Minnsinsk in Ostsibirien verschickt. Ob er von da wohl jemals wiederkehrte?… Wer hätte das zu hoffen gewagt?…
Ein entsetzlicher Schlag für die beiden Familien, den das ganze slawische Riga mit ihnen empfand.
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