Ein dunkles Grab: Die Kurzgeschichte zum Roman "Renegade. Tiefenrausch"
jung – älter als Tristan, aber jünger als Conn und ich. Das kurze, blonde Haar glänzt … auf ungewöhnlich perfekte Art. Er hat eine Weile im Wasser getrieben, bevor er hier angeschwemmt wurde. Und obwohl das Meer den Körper des Toten ziemlich zugerichtet hat, entdecke ich noch etwas Erstaunliches an ihm: Seine Haut ist so bleich, als wäre er nie dem Sonnenlicht ausgesetzt gewesen. Aber wie sollte das möglich sein? Und wie ist er auf dieser Insel gelandet?
Die Todesursache ist offensichtlich – solche Wunden würde ich überall wiedererkennen: zwei Schüsse in die Brust. Und falls die ihn nicht getötet haben, ist er wohl verblutet, wie die großen dunklen Flecken, die immer noch auf seiner Kleidung zu erkennen sind, belegen. Ein Wunder, dass er nicht als Appetithappen für die Meeresbewohner gedient hat. Bei so viel Blut im Wasser müsste doch der ein oder andere Hai aufmerksam geworden sein. Vielleicht schmeckt er einfach nicht.
Plötzlich wird mir klar, dass sich der Mörder des Jungen möglicherweise noch hier herumtreibt, aber außer unseren Fußspuren ist nichts zu sehen. Wahrscheinlich wurde die Leiche irgendwo anders ins Wasser geworfen und dann hier angespült. Trotzdem sollten wir vorsichtig sein und wachsam bleiben, sicher ist sicher.
Ich stehe auf und wische mir den Sand von den Händen. Als ich kurz zum Wald hinüberblicke, scheint ein dunkler Schatten durch den Nebel zu gleiten. Schaudernd denke ich an all die abergläubischen, dämlichen Geistergeschichten.
Conns Überlegungen gehen offenbar in eine ähnliche Richtung: »Es heißt, wenn ein Körper nicht anständig begraben wird, streift die Seele am Ort des Todes herum, weil sie keine Ruhe findet.«
Ich bekomme eine Gänsehaut, erwidere aber: »So ein Blödsinn. Wenn Menschen sterben, sterben sie einfach. Sie kommen nicht zurück, um andere heimzusuchen, schon gar nicht auf irgendeiner dämlichen Insel.« Ein kurzer Blick auf die Leiche verunsichert mich allerdings. »Aber wir sollten ihn besser begraben. Ist doch irgendwie nicht richtig, ihn einfach hier liegen zu lassen.« Nur deshalb. Weil man das eben so macht – nicht wegen irgendeiner dummen Geistergeschichte.
Conn zieht eine Grimasse, hilft mir dann aber dabei, die Leiche ein Stück Richtung Wald zu ziehen, an das Ende des Strandes. Wir können nur mit unseren Händen graben, und das gestaltet sich im losen Sand wesentlich einfacher. Hastig heben wir ein flaches Grab aus und bedecken den Körper mit Sand. Conn verschwindet kurz und kehrt dann mit einem großen, ungewöhnlich geformten Stein zurück, mit dem wir das Grab kennzeichnen. Anschließend erweisen wir dem Jungen, den wir nie kennengelernt haben, stumm unseren Respekt. Ich bin wirklich froh, Tristan diesmal nicht mitgenommen zu haben.
Seit Dad gestorben ist, bin ich für ihn verantwortlich, eigentlich für die ganze Familie, da ich dort weitergemacht habe, wo Dad aufgehört hat. Tristan war damals fast noch ein Baby. Ich habe ihn gefüttert und gewickelt, ihm das Alphabet beigebracht und gezeigt, wie man ein Gewehr benutzt. Ich bin sogar zusammen mit Mom zu seiner Einschulung gegangen. Und ich würde es niemals offen zugeben, aber als ich ihn dort sah, in ebenjenem winzigen Klassenzimmer, in dem auch ich gesessen hatte, bei demselben Lehrer, der auch mich unterrichtet hatte, da sind mir die Tränen in die Augen gestiegen. Vielleicht lag es daran, dass er nun groß wurde – oder daran, dass mein Dad das niemals sehen würde. Tristan hat unseren Vater nicht wirklich gekannt; er hat immer zu mir aufgesehen.
Und ihn auf eine gefährliche Insel zu bringen, wo er auch noch den Leichnam eines Fremden zu sehen bekäme, wäre eine äußerst schlechte Leistung für einen Ersatz-Dad. Mir fiel es ja schon schwer genug, die Leiche zu betrachten. Was das bei Tristan ausgelöst hätte, möchte ich mir gar nicht erst vorstellen. Insbesondere, falls der Mörder noch irgendwo auf dieser Insel sein sollte.
Bei diesem Gedanken umklammere ich mein Gewehr und sehe mich noch einmal gründlich um. Auch wenn Conn und ich anscheinend die einzigen lebenden Menschen auf dieser Insel sind, werde ich das Gefühl nicht los, dass wir beobachtet werden. Beunruhigt nehmen wir unsere Ausrüstung und machen uns auf den Weg in das neblige Inselinnere.
Obwohl dieser Wald so vielversprechend aussieht, haben wir nach einem halben Jagdtag nicht einmal ein Kaninchen erlegt. Im Wald hören wir es ständig irgendwo knacken – also muss es jede Menge Tiere
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