Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie
selbst in den ehrwürdigen Steinmauern der Universität wirbelte verborgenes Leben; aber dorthin, wo das menschliche Leben in aller Öffentlichkeit stattfand, wie zum Beispiel im Gemeinschaftsraum und in der Mensa, wagte ich mich kaum. Die studentische Wochenzeitung
Critic
lag vor der Tür des Gebäudes der Studentenvertretung aus, mit der einladenden Aufforderung «greif zu». Nur drei oder vier Mal während meiner ganzen Studentenzeit war ich kühn genug, mir ein Exemplar des
Critic
zu nehmen. Wie konnte ich mich bei so viel Freiheit selbst derart einengen? Ich wünschte mir sehnlichst, den Mut aufzubringen, ein Gedicht an den
Critic
zu senden. Wenn ich ein paar zerlesene Seiten erwischte, die auf einem Tisch oder Stuhl im Korridor zurückgelassen worden waren, las ich genauestens alle Erzählungen und Gedichte und träumte davon, meine Gedichte gedruckt zu sehen, selbst kühn und geistvoll
meine Stimme zu erheben
und damit meiner Schüchternheit, Isolation und Angst vor der
Welt
entgegenzutreten. Ich wusste, dass es im Gebäude der Studentenvertretung einen Briefkasten für Beiträge gab: Ich hatte nicht den Mut, das Gebäude der Studentenvertretung zu betreten. Obwohl ich davon träumte, Gedichte zu schreiben, die aufgrund ihrer hervorragenden Qualität Aufsehen erregen würden, wusste ich, dass ich weder die Begabung noch das Selbstvertrauen und die wunderbare Reife besaß, die so deutlich aus den Gedichtseiten des
Critic
sprachen. Alle schrieben im freien Vers und verwarfen Großbuchstaben und Zeichensetzung; oft sprangen sie nurmit dem Objekt mitten ins Gedicht hinein: «Träumte … hoher Himmel, düster …» etc.
Es gab auch beliebte Wörter, die mit Überzeugung benutzt wurden – Füllhorn, Schenkel, phallisch, Nutten, todlos, wortlos, atemlos, das Auge, das Herz, der Geist, der Schoß; knallharte Gedichte voller Erfahrung, einmal lakonisch, dann wieder überschwänglich. Stark unter dem Einfluss von John Donne, schrieben die Männer Gedichte über Frauen – ein verwickelter metaphorischer Austausch von Herzen, Betten, Seelen, Leibern –, wogegen die Frauen über Blumen, Wälder und das Meer schrieben. Beeinflusst von Hopkins’ «Akzentverschiebung» und dem Wortschatz von Dylan Thomas, schrieb ich rätselhafte Gedichte voller Bilder, die ich aus meiner Vergangenheit und ihren Nebenvergangenheiten sowie aus meiner Gegenwart bezog, alles gebündelt durch meine neu erworbene freudianische Linse mit ihrer Tönung von T. S. Eliot’schen Geranien aus dem wüsten Land und der Garden Terrace Nummer 4 – verwelkt, geschüttelt von einem Wahnsinnigen.
Stets verbündete ich mich mit den Dichtern, so, wie meine Mutter es getan hatte. Ich legte mir exzentrische Ansichten zu. Nachdem ich Shelley gelesen hatte –
Die wahre Liebe unterscheidet sich von Gold und Lehm,
Indem sie, so geteilt, doch nicht geschmälert wird.
Die Liebe ist wie die Erkenntnis, welche klarer wird,
Wenn sie auf viele Wahrheiten blickt, ist wie dein Licht,
O Phantasie!,
das aus der Erde und dem Himmel
Und aus den Tiefen menschlicher Einbildung …
– gab ich mir selbst und allen, die es vielleicht interessierte, bekannt, dass ich an «freie Liebe» und «Polygamie» «glaubte»– ich griff nach der Taube auf dem Dach, wo der Spatz nicht einmal in Sichtweite war!
Das magischste aller Wörter für mich war immer noch
Fantasie,
ein schimmerndes, edles Wort, das unfehlbar sein eigenes inneres Licht erzeugte. Durch die Pflichtlektüre von Coleridges
Biographia Literaria
für die Universität lernte ich viel über ihre Beschaffenheit. Folgende Stelle lernte ich auswendig:
«Was die kreative Phantasie betrifft, so unterscheide ich dabei die primäre und die sekundäre. Die primäre Phantasie halte ich für die lebendige Kraft und erste Ursache aller menschlichen Wahrnehmung und für eine Wiederholung des ewigen Schöpfungsaktes im unbegrenzten Ich Bin im begrenzten Geist. Die sekundäre Phantasie betrachte ich als einen Widerhall ersterer, bestehend neben dem bewussten Willen und dennoch als identisch mit der primären, was die
Art
ihrer Wirkung betrifft, lediglich unterschieden nach
Grad
und
Modus
ihrer Funktion. Um neu zu erschaffen, löst sie sich auf, zerfällt, zerstreut sich; und wo dieser Prozess unmöglich ist, bemüht sie sich auf alle Fälle, zu idealisieren und zu vereinheitlichen. Sie ist im Kern
lebendig
, genau wie jedes Objekt (
als
Objekt) seinem Wesen nach starr und tot ist … Die bloße Einbildung jedoch hat
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