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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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zu seiner Mündung ins Meer, mit seiner natürlichen Last von Wasser und Bewegung und seiner Zurschaustellung von Farben, Schneegrün, Blau, Schlammbraun, und den vom Licht geborgten Regenbögen; und mit seiner zusätzlichen Last toter Dinge, aufsteigend aus seiner Gewalt – verwelkte oder entwurzelte Pflanzen, Kadaver und Gerippe von Rindern, Schafen und Rehen; und manchmal auch von Menschen, die ertrunken waren.
    Nachdem ich ein Jahr eingesperrt in der Stadt verbracht hatte, studierend, schreibend, mir in meiner neuen Rolle als Erwachsene stets der Grenzen von Verhalten und Gefühl bewusst, stand ich nun dem Clutha von Angesicht zu Angesicht gegenüber, einem Wesen, das allem Druck von Fels, Stein, Erde und Sonne standhielt und als ein Element der Freiheit lebte, aber nicht isoliert, sondern verbunden mit Himmel und Licht durch den schmalen Regenbogen, der über seinen Fluten schimmerte. Ich hatte das Gefühl, dass der Fluss ein Verbündeter war, dass er für mich sprechen würde.
    Ich verliebte mich in Central Otago und den Fluss, in die kahlen Hügel, die nur in den Senken von ihrem eigenen Schatten bedeckt waren, in ihre wechselnden Goldschattierungenund in den Himmel, der jeden Morgen ohne die Spur einer Wolke geboren wurde und sich abends in seine purpurne Tiefe zurückzog. Tag und Nacht versuchten wir die Hitze der Sonne zu ertragen, die die Luft im Freien verbrannte und von den Wellblechwänden und dem Wellblechdach der großen Hütte gespeichert wurde, in der wir wohnten und schliefen. Jeden Tag, den ganzen Tag, pflückten wir Himbeeren, wie man es uns beigebracht hatte, gebückt, indem wir sie vorsichtig von ihren Stängeln molken und die weichen, pelzigen Klümpchen in den Blecheimer fallen ließen, der uns an einer Schnur um den Hals hing. Unsere Hände waren vom Himbeerblut befleckt und von Himbeerdornen zerkratzt, die einzeln ganz weich waren, doch dicht gedrängt an den Stängeln stechen konnten wie Nadeln. Mein Gesicht und meine Arme und Beine glühten rot vom Sonnenbrand. Ich war eine langsame Pflückerin und verdiente kaum das Geld für die Heimreise nach Oamaru.
    Die Pflückerinnen, die aus seltsamen Orten kamen wie Whakatane, Matamata, Tuatapere, erschienen mir wie Göttinnen, faszinierend in allem, was sie sagten und taten. Die Bauernsöhne waren wie jüngere Götter: Ich betrachtete ihre Gesichter, ihre Augen, musterte ihre Hände, Arme, Beine und warf kurz, aber häufig einen Blick auf die Schwellung zwischen ihren Beinen, den Schneeball, in Schneegras gebettet. Die Welt war ein Festmahl, bei dem einem nichts verweigert wurde, außer dem, was durch unsichtbare Grenzen gekennzeichnet war: Wir waren keine Flüsse. Die anderen Studenten, die wenigen, die ich kannte, waren übermannt von ihrer Umwelt, vom Wissen um den Krieg, von ihren eigenen Unsicherheiten. Wir hatten nun die Hälfte unserer Lehrerausbildung hinter uns: Würden wir sie erfolgreich abschließen?Wie würde es sein, in unserem letzten Jahr? Die Arbeit in Soziologie lag vor uns, die angeblich ein ganzes Jahr beanspruchte und (wie einige meinten) so lang sein musste wie ein Buch. Und wie würde es uns ergehen im Jahr der «C»-Prüfung? Und mit unserem Liebesleben? Wir sprachen über Liebe und Sehnsucht, erzählten einander unsere liebestrunkenen Träume von jenen allzu wenigen, unerreichbaren männlichen Studenten – Montanistik- und Medizinstudenten – und wie wir uns an zufällig dahingesagte freundliche Worte klammerten, die auf allzu offene Ohren stießen und uns ermutigten, die schmelzenden Dichterworte zu wiederholen:
    Mein Liebster hat mein Herz und ich das seine,
    In rechtem Austausch, meines für das seine.
    Abends ging ich auf dem Hügel spazieren, zwischen dem Matagouri, einem dornigen Wüstenstrauch von zerzaustem und verkrüppeltem Wuchs mit kleinen grauen Blättern wie schmutzige Schneeflocken. Ich verliebte mich in den Matagouri, denn obwohl er auch auf den Hügeln um Oamaru wuchs, war sein Name, den mir einer der Götter oder Göttinnen auf meine Frage «Was für eine wundervolle Pflanze ist das?» verraten hatte, neu für mich. Der Matagouri (
tumutakuru
) ließ sein Wunder über Nacht in meine neu erwachte Welt hineinwachsen. Auf den Hügeln fand ich auch eine Grasart, die ich seit meiner frühen Kindheit nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte – Schneegras, golden und seidig wie die Fäden des Tussock-Grases, von dem ich annahm, dass es nach der Tussahseide benannt war, einem sehnlich erträumten Stoff aus

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