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Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie

Titel: Ein Engel an meiner Tafel - eine Autobiographie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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keine anderen Gegenspieler als festgesetzte und klar umrissene Größen. Sie ist tatsächlich nichts anderes als eine Form des Gedächtnisses, befreit von den Ordnungen von Zeit und Raum; gleichzeitig ist sie von jenem empirischen Phänomen des Willens durchdrungen und näher bestimmt, das wir mit dem Wort
Wahl
bezeichnen. Doch ebenso wie das normale Gedächtnis muss auch die Einbildung all ihr Material bereits fertig vom Gesetz der Assoziationbeziehen. Die Vernunft ist der Körper dichterischer Begabung, die Einbildung ihr Gewand, die Bewegung ihr Leben und die kreative Phantasie die Seele, die allgegenwärtig und in ihnen allen enthalten ist und aus allem ein anmutiges und intelligentes Ganzes macht.»
     
    Ich war fasziniert von der angedeuteten Kluft, dem Dunkel, dem wüsten Land zwischen Einbildung und Fantasie und von der einsamen Reise, sobald die Grenze der Einbildung überschritten war und nur noch die Fantasie vor einem lag. Sie wurde zu meinem Ziel, zu einer Art Religion. Keiner hatte je die Beschäftigung mit der Fantasie verboten oder sie missbilligt, und obgleich ich mir über meinen eigenen Beitrag dazu kaum Illusionen machte, bewahrte ich sie in meinem verborgenen poetischen Leben, sie floss zwischen der Dichtung und der Prosa, die ich las, und mir selbst hin und her, und selbst der voraussichtliche Spott anderer oder eher noch meine eigene Selbstironie mit «Frustration» und «Sublimation» konnte ihr nichts anhaben und sie nicht zerstören, denn sie war, wie Coleridge und all die Dichter behauptet hatten, «das Höchste», und zu dieser Zeit in meinem Leben, als ich gerade herausfand, dass das Leben mit vielen Festmählern aufwartet und man oft Angst hat, von der Tafel gewiesen zu werden, sah ich die Festtafel der Fantasie fast liebevoll vor mir gedeckt, in großem Überfluss und Wohlwollen.
    Der Krieg ging weiter. Ich machte mir Sorgen über meine schlechten Zähne, meine Kleidung, das Geld, den Lehrberuf. Wenn Zahltag war und ich meinen Scheck über neun Pfund und neun Pence bei Arthur Barnetts eingelöst hatte, ging ich mit anderen Studenten zum
Silbernen Grill
auf einen «gemischten Grillteller, bitte». Einige Studenten tranken sogar
Kaffee
.Sie – wir – die Stilleren – redeten über die tollen Erfolge gewisser anderer Studentinnen, stellten neidisch fest, wer mit einem Medizinstudenten «ging», denn die Medizinstudenten standen in dem Ruf, «alles» über Sex zu wissen. «Komm, ich zeig dir deine Spareribs», sagten sie.
    Und der Krieg ging weiter und brachte eine Atmosphäre der Unwirklichkeit mit sich, die sich auf die alltägliche Atmosphäre der Unwirklichkeit legte und so eine Stimmung der Traurigkeit, des Mitleids und der Hilflosigkeit erzeugte. Die ewig Frage lautete: Warum?
    In der Garden Terrace Nummer 4 verwandelte sich Onkel Georges Blässe ins Grau des nahenden Todes. Er ging nicht mehr spazieren und kam auch nicht mehr zu Tante Isy ins Wohnzimmer herunter, um sich mit ihr und Billy, dem Wellensittich, zu unterhalten, der sagen konnte: Hübscher Junge, hübscher Junge, Billy, Rauf mit dir ins Bett, rauf mit dir ins Bett. Immer mehr Tuben Lanolin wurden ausgedrückt und weggeworfen. Bevor ich in mein Zimmer ging, sagte ich Onkel George guten Tag, stand am Fußende seines Bettes und versuchte an seiner verhüllten Gestalt Anzeichen des Krebses zu entdecken, den er und Tante Isy so sorgfältig überwachten und so verschwenderisch mit Sharlands Lanolin fütterten.
    Dann, eines Sonntags, als ich von meinem Spaziergang auf dem Friedhof zurückkehrte, kam mir Tante Isy an der Türschwelle entgegen.
    «Onkel George ist heimgegangen, Jean.»
    Ich hatte ihn nicht gekannt. Onkel George, der Handelsreisende, der früher in Middlemarch gelebt hatte. Middlemarch. Middlemarch. So, wie Tante Isy das sagte, kam es mir vor, als gehörten ihr Middlemarch und die Welt, aber es war Onkel George, der ihr gehörte. Und obwohl ich ihn gar nichtliebte, empfand ich bei der Nachricht von seinem Tod heftigen Schmerz, brach in Tränen aus und lief hinauf in mein Zimmer. Am nächsten Tag ging ich nicht zur Hochschule, und als Mr. Partridge eine Erklärung für meine Abwesenheit verlangte, sagte ich mit bewusst trauriger, dem Kummer angemessener Stimme: «Mein Onkel ist am Wochenende gestorben, und ich bin zu Hause geblieben, um meiner Tante zu helfen.»
    Onkel Georges Schwestern hatten ihn für das Begräbnis nebenan in die Nummer fünf gebracht, und ich hatte das Gefühl, dass ein langer Streit um den

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