Ein Engel im Winter
seine Krawatte. Wirklich, der stechende Schmerz in der Brust war immer noch da. Er rieb sich die Schläfen und spritzte sich ein bisschen kaltes Wasser ins Gesicht.
Hör auf, an Mallory zu denken.
»Nathan?«
Abby trat ein ohne anzuklopfen, wie üblich, wenn sie allein waren. Sie besprach mit ihm seine Termine für den Nachmittag und fügte dann hinzu:
»Heute Morgen hat ein Freund von Ashley Jordan angerufen, er wollte dringend einen Termin. Ein gewisser Garrett Goodrich …«
»Goodrich? Nie gehört.«
»Ich glaube, er ist ein Sandkastenfreund von ihm, ein berühmter Arzt.«
»Und was kann ich für diesen Herrn tun?«, fragte Nathan und runzelte die Stirn.
»Ich weiß nicht, er hat sich nicht geäußert. Er sagte lediglich, Jordan meinte, Sie seien der Beste.«
Und das stimmt: Ich habe in meiner ganzen Karriere keinen einzigen Prozess verloren. Keinen einzigen.
»Versuchen Sie bitte, Ashley zu erreichen.«
»Er ist vor einer Stunde nach Baltimore gefahren. Sie wissen doch, der Fall Kyle …«
»Ach ja, genau … Wann wird dieser Goodrich kommen?«
»Ich habe ihm siebzehn Uhr vorgeschlagen.«
Sie stand bereits auf der Türschwelle, als sie sich umwandte.
»Bestimmt handelt es sich um einen Prozess gegen einen Arzt«, vermutete sie.
»Zweifellos«, pflichtete er ihr bei und versenkte sich wieder in seine Akten. »Wenn das zutrifft, verweisen wir ihn in die Abteilung im vierten Stock.«
Goodrich traf kurz vor siebzehn Uhr ein. Abby brachte ihn in Nathans Büro, ohne ihn warten zu lassen.
Er war ein Mann in den besten Jahren, hochgewachsen und kräftig gebaut. Sein eleganter langer Mantel und sein anthrazitfarbener Anzug unterstrichen seine Statur. Sicheren Schrittes betrat er das Büro. Er blieb in der Mitte des Raums stehen. Offensichtlich hatte er die Haltung eines Kämpfers, und das verlieh ihm eine starke Präsenz.
Mit einer lockeren Handbewegung schüttelte er seinen Mantel aus und reichte ihn dann Abby. Er fuhr sich mit den Fingern durch sein gekonnt zerzaustes, grau meliertes Haar – das trotz seiner schätzungsweise sechzig Jahre sehr voll war –, strich sich über seinen kurzen Bart und musterte den Anwalt durchdringend.
Nathan fühlte sich unter Goodrichs Blick unbehaglich. Sein Atem beschleunigte sich auf seltsame Weise, und in Sekundenschnelle gerieten seine Gedanken durcheinander.
Kapitel 2
Dann sah ich einen Engel,
der in der Sonne stand.
Offenbarung, 19,17
»Geht es Ihnen gut, Sir?«
Du lieber Himmel, was ist mit mir los?
»Ja, ja … nur eine kleine Schwäche«, erwiderte Nathan und fing sich wieder. »Vermutlich ein bisschen überarbeitet .«
Goodrich schien das nicht zu überzeugen.
»Ich bin Arzt. Wenn Sie wollen, untersuche ich Sie, ich tu es gern«, schlug er mit sonorer Stimme vor.
Nathan rang sich ein Lächeln ab.
»Danke, es geht schon.«
»Ehrlich?«
»Seien Sie unbesorgt.«
Ohne darauf zu warten, dass Nathan ihn aufforderte, sich zu setzen, machte Goodrich es sich in einem Ledersessel bequem und betrachtete aufmerksam die Einrichtung des Büros. An den Wänden reihten sich Regale mit alten Büchern, in der Mitte des Raumes befand sich ein imposanter Schreibtisch zwischen einem Konferenztisch aus massivem Nussbaum und einem eleganten kleinen Sofa. Alles wirkte behaglich.
»Also, was erwarten Sie von mir, Dr. Goodrich?«, fragte Nathan nach kurzem Schweigen.
Der Arzt schlug die Beine übereinander und lehnte sich in seinem Sessel zurück, bevor er antwortete:
»Ich erwarte nichts von Ihnen, Nathan … Sie erlauben doch, dass ich Nathan zu Ihnen sage, nicht wahr?«
Sein Ton klang nach einer Feststellung, nicht nach einer Frage.
Der Anwalt ließ sich nicht aus der Fassung bringen:
»Sie haben mich doch aus beruflichen Gründen aufgesucht, nicht wahr? Unsere Kanzlei verteidigt auch Ärzte, die von ihren Patienten verklagt werden …«
»Zum Glück ist das bei mir nicht der Fall«, unterbrach ihn Goodrich. »Wenn ich ein Glas zu viel getrunken habe, lasse ich das Operieren bleiben. Es ist doch peinlich, wenn man das rechte Bein amputiert, obwohl das linke krank ist, oder?«
Nathan zwang sich zu lächeln.
»Was haben Sie dann für ein Problem, Dr. Goodrich?«
»Nun, ich habe ein paar Kilo zu viel, aber …«
». dafür benötigen Sie nicht unbedingt die Dienste eines Anwalts, was Sie mir bestimmt bestätigen werden.«
»Genau.«
Dieser Typ hält mich für einen Idioten.
Eine lähmende Stille breitete sich im Raum aus, obwohl keine große
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