Ein Engel im Winter
Spannung herrschte. Nathan war nicht leicht zu beeindrucken. Seine berufliche Erfahrung hatte ihn zu einem gefürchteten Gesprächspartner gemacht, und es war schwierig, ihn bei einem Gespräch zu verunsichern.
Er musterte sein Gegenüber aufmerksam. Wo nur hatte er diese hohe, breite Stirn schon mal gesehen, diesen kräftigen Kiefer, diese buschigen, eng zusammenstehenden Augenbrauen? Goodrichs Blick verriet keine Spur von Feindseligkeit, dennoch fühlte sich der Anwalt bedroht.
»Wollen Sie etwas trinken?«, bot er in einem, wie er hoffte, ruhigen Ton an.
»Gern, ein Glas San Pellegrino, wenn es möglich ist.«
»Das wird zu beschaffen sein«, versicherte Nathan, griff nach dem Hörer, um Abby darum zu bitten.
Während er auf sein Mineralwasser wartete, erhob sich Goodrich, trat vor das Regal und studierte nun interessiert die Bücher.
Ja doch, fühl dich ganz wie zu Hause, dachte Nathan gereizt.
Als der Arzt wieder Platz genommen hatte, betrachtete er aufmerksam den Briefbeschwerer – einen Schwan aus Silber –, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag.
»Damit könnte man durchaus einen Menschen töten«, bemerkte er und wog ihn in der Hand.
»Zweifellos«, stimmte Nathan mit gequältem Lächeln zu.
»In den alten keltischen Texten findet man viele Schwäne«, murmelte Goodrich wie zu sich selbst.
»Sie interessieren sich für die keltische Kultur?«
»Die Familie meiner Mutter stammt aus Irland.«
»Die Familie meiner Frau ebenfalls.«
»Sie meinen wohl Ihre Ex-Frau.«
Nathans Blick durchbohrte seinen Gesprächspartner.
»Ashley hat mir erzählt, dass Sie geschieden sind«, erklärte Goodrich seelenruhig und drehte sich auf seinem bequem gepolsterten Sessel.
Das fehlt noch, dass du diesem Kerl dein Leben beichtest.
»In den keltischen Texten«, fuhr Goodrich fort, »nehmen die Wesen aus der anderen Welt häufig die Form eines Schwans an, wenn sie auf die Erde kommen.«
»Sehr poetisch, aber können Sie mir erklären, was .«
In diesem Augenblick kam Abby mit einem Tablett herein, auf dem eine Flasche und zwei große Gläser mit Mineralwasser standen.
Der Arzt legte den Briefbeschwerer zurück und trank sein Glas aus – so langsam als genieße er jeden Tropfen.
»Haben Sie sich verletzt?«, fragte er und deutete auf eine Schramme an der linken Hand des Anwalts.
Dieser zuckte die Achseln.
»Das ist gar nichts: Ich habe beim Joggen ein Drahtgitter gestreift.«
Goodrich stellte sein Glas zurück und schlug einen belehrenden Ton an:
»In dem Augenblick, in dem Sie das sagen, erneuern sich Hunderte Ihrer Hautzellen. Wenn eine Zelle abstirbt, teilt sich eine andere, um sie zu ersetzen: Das ist das Phänomen der Gewebehomöostase.«
»Freut mich zu hören.«
»Gleichzeitig werden jeden Tag viele Neuronen Ihres Gehirns zerstört, und das seit Ihrem zwanzigsten Lebensjahr …«
»Ich denke, das ist das Schicksal aller menschlichen Wesen.«
»Genau, das ständige Pendeln zwischen Schöpfung und Zerstörung.«
Der Typ ist wahnsinnig.
»Warum erzählen Sie mir das?«
»Weil der Tod überall ist. In jedem menschlichen Wesen, in allen Phasen seines Lebens herrscht eine Spannung zwischen zwei widersprüchlichen Kräften: den Kräften des Lebens und denen des Todes.« Nathan erhob sich und deutete auf die Tür des Büros. »Sie erlauben?«
»Bitte sehr.«
Er verließ den Raum und ging zu einem freien Arbeitsplatz im Zimmer der Sekretärinnen. Schnell klickte er sich ins Internet ein und durchforstete die Seiten der New Yorker Krankenhäuser.
Der Mann, der in seinem Büro saß, war kein Betrüger. Es handelte sich weder um einen Prediger noch um einen Geisteskranken, der einer Nervenheilanstalt entflohen war. Er hieß wirklich Garrett Goodrich, war Doktor der onkologischen Chirurgie, ehemaliger Assistenzarzt am Medical General Hospital in Boston, jetzt Chefarzt am Staten Island Hospital und Leiter der Abteilung Palliativmedizin dieses Krankenhauses.
Dieser Mann war ein hohes Tier, eine echte Koryphäe in der Welt der Medizin. Kein Zweifel: Es gab sogar ein Foto von ihm, und es zeigte eindeutig das gepflegte Gesicht des Sechzigjährigen, der im Nebenraum auf ihn wartete.
Nathan prüfte aufmerksam die Karriere seines Gastes: Seines Wissens war er nie in einem der Krankenhäuser gewesen, die den beruflichen Aufstieg von Doktor Garrett Goodrich markierten. Warum also kam er ihm so bekannt vor?
Diese Frage bewegte ihn, als er in sein Büro zurückkehrte.
»Also, Garrett, Sie haben mir vorhin
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