Ein Engel im Winter
für sie da gewesen, hatte seine Rolle sehr ernst genommen und sich täglich um alles gekümmert, von der Beaufsichtigung der Hausaufgaben, über den Reitunterricht bis hin zu den Geigenstunden.
Sicher hatte er so einiges versäumt, manche Ungeschicklichkeit begangen, aber er hatte sein Bestes gegeben. In dieser dekadenten Zeit hatte er sich vor allem bemüht, ihr Werte zu vermitteln. Er hatte sie vor schlechtem Umgang, Überheblichkeit, Zynismus und Mittelmaß bewahrt. Jahrelang war ihre Beziehung eng und einvernehmlich gewesen. Camille hatte ihm alles erzählt, ihn häufig nach seiner Meinung gefragt und seine Ratschläge befolgt. Sie war der Stolz seines Lebens: ein intelligentes, feinsinniges und strebsames junges Mädchen, das in der Schule glänzte und vielleicht am Beginn einer großen Karriere als Geigerin stand. Seit einigen Monaten gab es jedoch immer häufiger Streit, und er musste zugeben, dass er sich zunehmend überfordert fühlte, sie in dieser gefährlichen Übergangszeit, die von den Ufern der Kindheit an die Klippen des Erwachsenenalters führt, zu begleiten.
Ein Taxi hupte, um ihm zu bedeuten, dass die Ampel auf Grün umgeschaltet hatte. Sebastian stieß einen tiefen Seufzer aus. Er verstand die Menschen nicht mehr, er verstand die Jugend nicht mehr, er verstand die Welt nicht mehr. Alles brachte ihn zur Verzweiflung und erschreckte ihn. Die Welt tanzte am Rand des Abgrunds, überall lauerte Gefahr.
Natürlich musste man mit der Zeit gehen, sich ihr stellen und nicht aufgeben, aber die Menschen glaubten ja an nichts mehr. Orientierungen lösten sich auf, Ideale verschwanden. Wirtschaftskrise, Umweltkrise, Gesellschaftskrise. Das System rang mit dem Tod, und seine Akteure – Politiker, Eltern und Lehrer – hatten den Kampf aufgegeben.
Was mit Camille geschah, stellte alle seine Prinzipien infrage und verstärkte seine natürliche Ängstlichkeit noch mehr.
Sebastian hatte sich zurückgezogen, sich eine Welt nach seinen Vorstellungen geschaffen. Inzwischen verließ er sein Viertel nur noch selten und Manhattan noch weniger.
Als berühmter Geigenbauer, der die Einsamkeit liebte, vergrub er sich immer öfter in seiner Werkstatt. Tagelang arbeitete er, die Musik als einzige Gesellschaft, an seinen Instrumenten, an ihrer Klangfarbe und -fülle, um sie zu Unikaten zu machen, auf die er stolz sein konnte. Seine Geigenbauwerkstatt war auch in Europa und Asien bekannt. Was jedoch seinen Umgang betraf, so beschränkte er sich auf einen kleinen Kreis von Kennern, im Wesentlichen auf Leute aus dem Milieu der klassischen Musik oder Abkömmlinge bürgerlicher Familien, die seit Jahrzehnten in der Upper East Side lebten.
Sebastian schaute auf seine Armbanduhr und gab Gas. Auf Höhe der Grand Army Plaza fuhr er an der hellgrauen Fassade des Park Savoy Hotel vorbei und zwischen den Autos und Touristenkutschen hindurch zur Carnegie Hall. Er parkte in der Tiefgarage gegenüber dem legendären Konzertsaal und nahm den Aufzug hinauf in seine Werkstatt.
Die Firma Larabee & Son war von seinem Großvater, Andrew Larabee, Ende der 1920er-Jahre gegründet worden. Im Lauf der Zeit hatte sich der bescheidene Laden einen internationalen Ruf erworben und war schließlich eine der ersten Adressen im Bereich des Geigenbaus und der Restaurierung alter Instrumente geworden.
Sobald Sebastian seine Werkstatt betreten hatte, entspannte er sich. Hier herrschten Ruhe und Frieden. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Der angenehme Geruch nach Ahorn, Weide und Fichte vermischte sich mit dem der Lacke und Lösungsmittel.
Er liebte die besondere Atmosphäre dieses Handwerks aus einer anderen Zeit. Im achtzehnten Jahrhundert hatte die Schule von Cremona die Kunst des Geigenbaus perfektioniert. Seither hatten sich die Techniken kaum weiterentwickelt. In einer Welt des permanenten Wandels hatte diese Beständigkeit etwas Wohltuendes.
Hinter ihren Werktischen arbeiteten Geigenbauer und Lehrlinge an verschiedenen Instrumenten. Sebastian begrüßte Joseph, seinen Werkstattleiter, der gerade die Wirbel einer Bratsche einstellte.
»Die Leute von Farasio haben wegen der Bergonzi angerufen. Der Verkauf wurde zwei Tage vorgezogen«, erklärte er und klopfte sich die Späne von seiner Lederschürze.
»Das darf doch nicht wahr sein! Es wird für uns schwierig sein, diesen Termin zu halten«, erwiderte Sebastian besorgt.
»Übrigens, sie hätten dein Echtheitszertifikat gern heute im Lauf des Tages. Meinst du, das ist
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