Ein Fall zu viel
Hat einfach nicht kapiert, dass mich das die Approbation kosten könnte. Die Patienten wussten doch nicht, dass das Mittel noch nicht zugelassen war.« Aus seiner Kehle drang ein hohes Lachen. »Dabei hat sie selbst bei der Sache mitgemacht, dafür gutes Geld gerne genommen. Aber die Konsequenzen scheinen ihr nicht klar gewesen zu sein. Sie hat auch nicht verstanden, dass ich nie wieder zurück in die Gosse gehen würde, in der ich früher leben musste. Ich habe alles dafür getan, daraus zu entkommen, und habe es geschafft, ganz allein.« Er stieß einen Laut aus, der wohl höhnisch klingen sollte. »Die Frau war einfach immer nur Mittelmaß.«
Während Pielkötter nickte, blieb Barnowski regungslos.
»Der Lützow, der Böhmer, die Altenkämper, die waren doch selbst schuld«, fuhr Gerstenscheider erregt fort. »Es war nicht die erhöhte Dosis des Testmedikaments, die sie umgebracht hat. Ich habe ihnen wirklich geholfen. Durch das neue Mittel in dieser Dosierung ist es mit meinen Patienten steil bergauf gegangen. Was kann ich dafür, wenn sie zusätzlich Alkohol getrunken haben? Ich habe sie ausdrücklich davor gewarnt. Liegt es in meiner Verantwortung, wenn sie meinen Rat nicht befolgt haben? Weiß der Henker, vor welchem Verfolger sie in ihrer Wahnvorstellung geflohen sind? Die Pharmafirma kann sich tote Probanden nicht leisten. Dafür bezahlen die mich nicht. Aber kann man mich dafür verantwortlich machen?«
»Daran tragen Sie wirklich keine Schuld«, erwiderte Pielkötter in beruhigendem Ton. »Das wird auch jeder Richter so werten.«
Während der Arzt redete, sandte Barnowski einen flehenden Blick in Richtung seines Chefs. Den spitzen Gegenstand an seiner Halsschlagader hatte Pielkötter inzwischen als Skalpell identifiziert. Wenn ihn nicht alles täuschte, hatte er den Griff vorhin in einem runden Gefäß auf dem Schreibtisch gesehen. Allerdings hatte er ihn für einen harmlosen Brieföffner gehalten. Er überlegte fieberhaft, was er als Nächstes tun könnte, um Barnowski ohne Risiko aus dieser lebensbedrohlichen Situation zu befreien.
»Aber die Sölle wollte meine Existenz zerstören«, warf Gestenschneider mit wirrem Ausdruck ein.
»Eigentlich haben Sie Ihren Patienten nur helfen wollen«, setzte Pielkötter weiter auf Beschwichtigung. »Das kann doch jeder nachvollziehen.«
»Hören Sie bloß auf mit Ihrem Geschwätz«, brüllte Gerstenschneider plötzlich. »Sie denken, Sie können mich einlullen, aber da haben Sie sich gewaltig geirrt. Ich kehre niemals in die Gosse zurück. Niemals. In meiner Vergangenheit habe ich genug Schmutz für ein ganzes Leben gesehen.« Er lachte kurz wie ein Irrer, dann wurde seine Miene wieder ernst. »Glauben Sie, ich will die ekeligen Finger der Mithäftlinge auf und in meinem Körper spüren? In einer Zelle noch einmal zum Opfer werden? Nein, vom Opferdasein habe ich wahrlich genug.«
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Pielkötter drehte sich automatisch um. Im Rahmen stand eine attraktive Frau Mitte dreißig. Ihre Augen starrten ungläubig in den Raum.
»Was um alles in der Welt wird hier gespielt?«
»Aber Gina!«, rief Gerstenschneider irritiert. Dabei drückte er das Skalpell etwas stärker gegen Barnowskis Hals, so dass er zu bluten anfing. »Gina, was machst du hier?«
»Wir waren verabredet«, antwortete sie wie eine schlechte Schauspielerin in einem noch schlechteren Stück. »Ich wollte nachsehen, warum du nicht kommst. Du hattest mir doch deinen Schlüssel gegeben.«
Der Arzt schien zu überlegen, war abgelenkt, wollte zu einer Erklärung ansetzen. Barnowski nutzte die Chance. Schnell ergriff er den Arm des Arztes, aber nicht schnell genug, die Klinge schnitt in Barnowskis Haut über dem Schlüsselbein. Während Gina aufschrie, zog Pielkötter seine Dienstwaffe. Er schoss und traf Gerstenschneiders Schulter. Das Skalpell fiel zu Boden. Wenige Augenblicke später hatte Barnowski ihm Handschellen angelegt.
»Auf Ihren Freund werden Sie wohl für einige Zeit verzichten müssen«, erklärte Pielkötter der fassungslosen Frau.
44. Kapitel
Pielkötter saß im Wohnzimmer in dem bequemen Ruhesessel, den Marianne erst kürzlich erstanden hatte. Nachdenklich genoss er einen eiskalten Wodka und drückte auf die Fernbedienung. Nach der Aufregung hatte er sich einen gemütlichen Feierabend wirklich verdient. Allerdings mochte sich keine echte Freude einstellen. Obwohl sich die letzten Fälle auf einen Schlag aufgeklärt hatten, saß die Angst um Barnowski
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