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Ein feiner dunkler Riss - Lansdale, J: Ein feiner dunkler Riss

Ein feiner dunkler Riss - Lansdale, J: Ein feiner dunkler Riss

Titel: Ein feiner dunkler Riss - Lansdale, J: Ein feiner dunkler Riss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe R. Lansdale
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sie selbst durchlitten hatten. Der Zweite Weltkrieg war zu Ende, und wir hatten die Welt vor den Bösen gerettet. Aber der Aufschwung, der den Rest des Landes erfasste, hatte es nicht ganz bis nach East Texas geschafft. Und wenn doch, dann war er nicht lange geblieben. Gemeinsam mit den Ölsuchern hatte er kurz auf eine schnelle Nummer vorbeigeschaut und sich dann so rasch wieder verzogen, dass man sich an diese guten Zeiten schon fast nicht mehr erinnerte.
    Im Radio lief Rockabilly, später bekannt als »Rock ’n’ Roll«, doch da, wo wir wohnten, lag nicht übermäßig viel Rock ’n’ Roll in der Luft. Es gab bloß einen Haufen Jugendliche, die nachmittags und abends vorm Dairy Queen herumhingen – vor allem freitags und samstags zu später Stunde.
    Einige der Jungs, wie zum Beispiel Chester White, hatten sich Ducktails und Hotrods zugelegt. Die meisten hatten ziemlich kurze Haare mit einer Tolle über der Stirn und reichlich Pomade drin. Sie trugen Hosen mit Bügelfalten, gestärkte weiße Hemden und auf Hochglanz polierte braune Schuhe, und wann immer sie durften, fuhren sie Daddys Wagen.
    Die Mädchen trugen Tellerröcke und Pferdeschwänze, aber das Radikalste an ihrem Benehmen war, dass sie an der Jukebox immer und immer wieder denselben Song spielten, hauptsächlich Elvis, und dass einige der Baptistentöchter tanzten, obwohl ihnen Hölle und Verdammnis drohten.
    Die Farbigen wussten, wo sie hingehörten. Frauen wussten, wo sie hingehörten. Das amerikanische Wörtchen »gay« bedeutete noch schlicht und einfach »fröhlich«. Viele Leute waren immer noch der Ansicht, dass man Kinder sehen, aber nicht hören sollte. Sonntags waren die Geschäfte geschlossen. Unsere Bombe war größer als die Bombe der anderen, und niemand konnte unsere United States Army besiegen, nicht einmal die Marsmenschen. Der Präsident der Vereinigten Staaten war ein freundlicher, großväterlicher, dicker, glatzköpfiger Mann, der gerne Golf spielte und im Krieg zu Ruhm und Ehre gelangt war.
    In meiner seligen Unwissenheit glaubte ich, mit der Welt sei alles in Ordnung.

2
     
    Nachdem wir nach Dewmont gezogen waren, lernte ich einen Jungen kennen, mit dem ich mich anfreundete. Er hieß Richard Chapman. Er war ein wenig älter als ich, ging aber in dieselbe Klasse, weil er einmal sitzen geblieben war.
    Genau wie Huckleberry Finn würde Richard wohl nie einen vorbildlichen Erwachsenen abgeben, aber er war ein prima Lausebengel. Er konnte schneller radeln als der Wind, konnte sich ein Taschenmesser zwischen die Zehen werfen, ohne sich wehzutun, kannte sich bestens in den Wäldern aus, kletterte wie ein Affe in den Bäumen herum und konnte mit vier Gummibällen gleichzeitig jonglieren.
    Er hatte einen fettigen braunen Haarschopf, den der Schweiß und eine großzügige Portion Vitalis noch fettiger machten. Richard kämmte seine Haarpracht streng nach hinten wie Johnny Weissmuller, dem er ähnlich sah.
    Ständig fielen ihm Strähnen in die Stirn, und er verbrachte ein Gutteil seiner Zeit damit, den Kopf ruckartig in den Nacken zu werfen. Da ich wusste, dass sein Schädel von Läusen bevölkert war, machten mich diese Bewegungen ziemlich nervös. Dennoch beneidete ich, der ich einen Wirbel und einen Fleck helles Haar über der Stirn hatte, Richard genauso um diesen fettigen Schopf wie um seine Muskeln.
    Falls Richard mit einem Flugzeug im Dschungel abgestürzt wäre, hätte er überlebt und wäre ein zweiter Tarzan geworden. Er hätte gelernt zu jagen, sich eine Hütte zu bauen und gegen Eingeborene zu kämpfen.
    Ich dagegen wäre in Sekundenschnelle von Löwen gefressen oder von Affen totgeprügelt worden.
    Eines schönen Samstagmorgens kam Richard zu uns, um fernzusehen; wir schauten uns alle Filme in der Sendung Jungle Theater an. Dabei nahm er oft meine Roy-Rogers-Cowboystiefel in die Hand, um die er mich heftigst beneidete. Diese Stiefel hatten es ihm angetan; sie waren aus rotem Leder, und auf den Zugschlaufen stand in silberner Schrift »Roy Rogers«.
    Richards Familie besaß keinen Fernseher. Sie hatten einen gehabt, aber nachdem ein Sturm ihre Antenne abgerissen und in eine Brezel verwandelt hatte, gelangte sein Vater zu der Auffassung, dass das ein Zeichen Gottes war, und verkaufte das Gerät an jemanden, der weiter sündigen wollte.
    Noch bevor die Sendung zu Ende war, hielt Richard sich einen meiner Cowboystiefel an den Fuß, um zu sehen, ob er ihm passen würde. Dann teilte er mir mit, dass er nach Hause gehen und bei der

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