Ein fliehendes Pferd
Sabine und Helene Kaffee und Calvados tranken und rauchten, sagte Helmut: Ich weiß nicht, Sabine, ist es besser, wenn ich erzähle, wie es war, oder ist es besser, wenn wir jetzt nicht darüber sprechen. Ich weiß es einfach nicht. Hel, du mußt sagen, was dir … möglich erscheint, es kommt auf dich an. Helene schaute auf. Er hatte tatsächlich Hel gesagt. Vielleicht zum ersten Mal. Anstatt zu antworten, verfiel sie in ein krampfartiges Weinen. Ein lautes, langgezogenes Heulen. Helmut war gleich aufgesprungen. Er ging in jähen, geradezu zornig wirkenden Schritten auf und ab. Helene stand auch auf, brachte ihn zum Stillstand. Dann weinte sie wieder. Diesmal lehnte sie den Kopf an ihn. Er spürte, wie es sie schüttelte. Er führte sie zum Sessel zurück. Sabine heulte auch. Auch Helmut konnte nicht verhindern, daß ihm Tränen kamen. Plötzlich fiel ihm ein, daß Sabine gesagt hatte, sie könne nicht mitsegeln, weil sie beim Friseur angemeldet sei. Helene hatte sicher längst bemerkt, daß Sabine nicht beim Friseur gewesen war.
Helene trank den Calvados, den Helmut abgelehnt hatte. Sabine schenkte alle drei Gläser wieder voll. Helene war die erste, die nach dem frisch gefüllten Glas griff.
Jetzt rauch doch deine Zigarre, sagte sie. Ich weiß ganz sicher, daß du jetzt rauchen würdest, wenn ich nicht da wäre.
Auch Sabine nickte ihm aufmunternd zu. Helmut sagte: Nein, wirklich nicht. Im Augenblick nicht. Vielleicht nachher. Helene stellte das dritte gefüllte Calvadosglas wieder deutlich vor Helmut hin, dann prostete sie Helmut zu. Er schüttelte den Kopf. Sie und Sabine tranken. Helene sagte: Mein Gott, ist dieser Calvados gut. Vor sechs Jahren habe ich ein Semester in Montpellier studiert, da habe ich öfter Calvados getrunken. Zwischen ganz dicken Mauern. Helmut dachte unwillkürlich an die dünnen Wände des Hotels in Grado. Er schaute zu Sabine hin und sah, daß
sie an das gleiche dachte. Das ärgerte ihn. Montpellier, sagte Helene, war die schönste Zeit meines Lebens. Dieser Satz klang komisch.
Sie trank aus. Sabine schenkte ihr wieder ein.
Jetzt bin ich die einzige, die trinkt, sagte sie.
Zum Wohl, sagte Sabine und trank mit ihr.
Morgen früh fahr ich, sagte sie.
Nach Starnberg, sagte Sabine.
Helene nickte.
Helmut hatte das Gefühl, er werde sich nie mehr bewegen können. Auch daß er je wieder sprechen werde, kam ihm unwahrscheinlich vor. Klaus würde, sagte sie vor sich hin, wahrscheinlich sagen, das Leben geht weiter.
Man sah, daß sie drauf und dran war, wieder zu heulen. Man sah, daß sie sich diesmal wehren wollte. Sie biß sich in die Lippen.
Ich weiß nur noch nicht wie, sagte sie.
Sie wehrte sich weiterhin gegen einen von innen drohenden Weinüberfall. Sie trank ihr Glas leer.
Sabine schenkte ein.
Klaus hat einmal gesagt, sagte sie, du mußt mich nur mögen, so lange ich lebe. Und jetzt habe ich das Gefühl, ich kann nie glauben, daß er tot ist. Das bring ich nicht in mich hinein. Nie. Für mich lebt er.
Sie trank ihren Calvados leer und hielt Sabine das Glas zum Füllen hin. Sie sagte: Prost. Sabine trank mit ihr.
Er hat nicht viel gehabt von seinem Leben, sagte sie. Es war nichts als eine Schinderei. Jeden Tag zehn, zwölf Stunden an der Maschine. Auch wenn er nicht schreiben konnte, hockte er an der Maschine. Ich muß auf dem Posten sein, hat er dann gesagt. Ihm ist alles, was er getan hat, furchtbar schwer gefallen. Deshalb hat er ja rundum den Eindruck verbreitet, er arbeite überhaupt nicht; was er mache, mache er nur aus Freude an der Sache, mühelos. Ja, mühelos, er wollte mühelos erscheinen. Und dann immer das Gefühl, daß alles, was er tue, Schwindel sei.
Daß man ihm eines Tages draufkommen werde. Er hat oft aufgeschrien, nachts. Und immer öfter hat er Schweißausbrüche gehabt, mitten in der Nacht. Darum hat er immer gesagt: Wir hauen ab auf die Bahamas. Wenn wir allein waren, hat er dazugefügt: Zu den anderen Verbrechern. Er war zutiefst davon überzeugt, daß er ein Verbrecher sei. Wir hätten natürlich nicht die geringste Aussicht gehabt, auf die Bahamas zu ziehen. Wir konnten uns ja kaum so einen Urlaub hier leisten. Er hat auch im Hotelzimmer jeden Tag noch gearbeitet. Und ich sollte Großmüttersprüche sammeln. Das ist vorbei. Das ist das einzige, was ich sicher weiß. Nie mehr in meinem Leben rühr ich ein Tonband an. Nie mehr eine Schreibmaschine. Ich konnte ihm nicht sagen, wie wenig mir das liegt, in stille Dörfer eindringen, den Bürgermeister fragen,
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