Ein fliehendes Pferd
sehr vorbereitet. Ich kann es mir erlauben, Sie um Ihre Aufmerksamkeit zu bitten. Ich spiele Ihnen die Wanderer-Fantasie von Franz Schubert.
Sie spielte die Töne in die Luft, sang die Töne, stieß die Rhythmen hervor, machte mit den Fingern Zeichnungen. Sie ging hin und her, stoppte, drehte sich. Sie trug das Klavierstück vor wie einen Text. Sie ließ keine Silbe aus und sagte genau, wie sie es meinte.
Es klopfte. Helmut rannte zur Tür. Frau Zürn. Da sei ein Herr, der seine Frau abholen wolle. An ihr vorbei, an Helmut vorbei, trat Klaus Buch in die Wohnung.
Helmut nickte Frau Zürn noch zu, dann schloß er die Tür, dann befahl er Otto zu sich und paßte auf ihn auf.
Klaus, schrie Sabine.
Helene sagte, ihre Musik sofort abbrechend, irgendwie ermattend, erlöschend: Mein Klaus, mein lieber, lieber Klaus. Ja, was sag ich denn immer: Lebendig ist er, sag ich, und was ist er: lebendig. Und so spät kommt er. Das sieht ihm gleich. Er hat einfach wissen wollen, was wir tun, wenn er nicht dabei ist. Stimmt’s. Schuft. Hab ich euch nicht gesagt, daß er ein Schuft ist. Klaus,
bitte such dir einen guten Platz, ich muß bloß noch die Wanderer-Fantasie zu Ende spielen.
Sie fand die Stelle und machte weiter. Aber nicht mehr lang. Sie sah Klaus an, ihn ansehend, füllte sie sich einen Calvados ein, sagte Prost, trank das Glas leer und sah wieder Klaus an. Klaus sagte: Komm jetzt.
Sie sagte: Hat es dir nicht gefallen? Entschuldige, du stehst da, ein frisch Geretteter, und ich spiele das Piano, ich würde mich nicht wundern, wenn du mich als Egoist einstufen würdest. Du, der du ein den Wellen Entkommener bist. Er besiegt jede Natur. Das habe ich schon im voraus bekannt gegeben. Stimmt’s? Klaus sagte: Komm jetzt.
Helene sagte: Aber Klaus, laß uns doch noch bei unseren Freunden bleiben. Wir haben doch sowieso keine Badewanne in unserem Zimmer. Hier haben sie auch keine Badewanne. Also können wir doch genau so gut hierbleiben. Dem Schicksal, keine Badewanne zu haben, bleiben wir auf jeden Fall treu. Alles klar. Ich gehe jetzt, sagte Klaus.
Hat dir jemand was getan, sagte sie. Ich seh’s, du bist beleidigt. Klaus, schnell, sag deiner Hel, wer dich beleidigt hat. Und zwar ganz arg hat der dich beleidigt. Das seh ich doch. liiih! Durch und durch beleidigt haben sie unseren Klaus. Ich werde dich regenerieren, Liebster, und zwar binnen kurzem. Ich schwöre es dir. Sie zündete sich wieder eine Zigarette an, nahm Helmuts Strohhut vom Haken und setzte sich den auf. Leihst du mir den, sagte sie. Und dann sagte sie: Komm, Genie, tapfer gehen wir.
Helmut und Sabine zuwinkend, ging sie hinaus und nahm dabei Klaus irgendwie mit. Klaus Buchs und Helmuts Blicke hatten sich, solange er da war, nicht getroffen. Das empfand Helmut jetzt. Also sollte er den Blick des nach hinten Kippenden bewahren. Wahrscheinlich hatte Klaus ihn in diesem Augenblick so durchschaut, wie ihn noch niemand durchschaut hatte. Und der, der ihn so durchschaut hatte, lebte. Sie rührten sich erst, als sie das Auto abfahren hörten.
Sabine sagte: Moment, Moment. Helmut setzte sich, zündete sich eine Zigarre an und schenkte sich Calvados ein und sagte: Prost. Und trank. Sabine trank nicht mit. Begreifst du, was er hat, fragte Sabine. Helmut reagierte nicht auf diese Frage. Helmut, was hat er, fragte Sabine. Er hat doch was. Statt, daß es jetzt eine Feier gibt, kommt er … wie der Jüngste Tag persönlich. Begreifst du das?
Helmut nahm sein schwarzes Kierkegaardbuch und sagte: Wenn du dein Wagner-Mein-Leben suchst, es liegt drüben, soll ich’s dir holen? Dann schlug er sein Kierkegaardbuch auf und las:
Während meines Aufenthaltes hier in Gillelei habe ich Esrom besucht, Fredensborg, Frederikvaerk und Tidsvilde. Der letzte Ort ist vornehmlich durch die Helenenquelle bekannt, wohin die ganze Umgegend zur Zeit des Johannistages wallfahrtet.
Er schlug das Buch wieder zu. Sabine saß noch genau so wie vorher. Komm jetzt, sagte sie. Wir wollten doch eine Radtour machen. In den Wald. Einen Waldlauf. Komm. Helmut stand auf und sagte: Ich kann sowas nicht tragen. Er zog sich um. Während er sich umzog, sagte er zu Sabine, die Fahrräder könne man ja Zürns schenken. Man lasse sie einfach da, man könne sie ja benützen, falls man noch einmal hierher in Urlaub käme.
Er sagte: Bitte, Sabine, zieh dich auch um. Bitte. Sein Ton war wieder genau so fest und dringlich geworden wie der, mit dem er die sportliche Ausrüstung erzwungen hatte.
Als beide
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