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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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dabei kann es kaum drei Uhr nachmittags sein. Alles ist still, und ich rieche ihn wie eine sich ballende Wolke: den Tod, den Tod von allem, hoffnungslos und stinkend und kaputt, die Farben haben kein Pigment mehr und die Gebäude keine Farbe, Autos liegen verlassen neben der Fahrbahn, und schon fängt es wieder an zu regnen. Ich spreche zu meinem Handgelenk (ohne Bild allerdings – der Bildknopf ist fest und für immer auf OFF geschaltet: weshalb sollte ich diese Ruine von einem Gesicht irgendwem zeigen wollen?). »Ja?« rufe ich, und der Regen wird jetzt heftiger, vom Wind gepeitscht, schlägt mir ins Gesicht wie ein nasses Handtuch.
    »Ty?«
    Die Stimme klingt rissig und zerfurcht, wie die Erde hier, wenn die Unwetter nach Nevada und Arizona weiterziehen und die Sonne zurückkehrt, um mit ihrer vollen ungefilterten melanomischen Macht auf uns niederzuknallen, aber ich erkenne sie sofort, auch nach zwanzig Jahren. Es ist eine Stimme, die mich körperlich berührt, mich aus dem Nichts heraus anspringt und an der Gurgel packt wie ein Wesen, das vom Blut anderer Wesen lebt. »Andrea? Andrea Cotton?« Kurze Pause. »Gütiger Gott, du bist es, oder?«
    Leise und verführerisch, während der Wind auffrischt und Lily mich hinter dem Maschendrahtzaun fixiert, als wäre ich der Hauptgang, fragt sie: »Kein Bild für mich?«
    »Was willst du, Andrea?«
    »Ich möchte dich sehen.«
    »Tut mir leid, mich kriegt keiner zu sehen.«
    »Ich meine persönlich, von Angesicht zu Angesicht. So wie früher.«
    Der Regen rinnt von meinem Hut herunter. Einer der inzüchtigen Löwen fängt an, sich seine armselige Lunge rauszuhusten, ein rasselndes, eigenartig mechanisches Geräusch, das über die mit Unkraut bewachsene Wiese schallt und an der monolithischen Fassade der Apartmenthäuser als Echo abprallt. Ich bemühe mich, einen ganzen Schwall von Gefühlen zu unterdrücken, aber sie tauchen dauernd wieder auf, durchstoßen die Oberfläche, drohen sich loszureißen und ein für allemal aus dem Ruder zu laufen. »Wozu?«
    »Was glaubst du wohl?«
    »Ich weiß nicht – um meine Kontokarten zu überziehen? Mir ins Hirn zu scheißen? Die Erde zu retten?«
    Lily rekelt sich und gähnt, zeigt mir ihre langen gelben Fangzähne und die großen, malmenden Molaren weiter hinten im Maul. Eigentlich sollte sie draußen auf der Steppe sein und Giraffenknochen knacken, das Mark aus den Wirbelkörpern saugen, Hufe zernagen. Nur daß es keine Steppe gibt, nicht mehr jedenfalls, und Giraffen auch nicht. In meinem Hirn hat sich etwas losgerissen und schreit: ES IST ANDREA! Und sie ist es. Andreas Stimme meldet sich wieder. »Nein, du Narr«, sagt sie. »Aus Liebe.«
    Ja, ich bin ein Narr, ein Narr der tausend Kostüme und bunten Hüte, und zum Beweis dafür willige ich in ein Treffen mit ihr ein, ohne viel Gegenwehr und nach nur höchst kümmerlichem Vorspiel, denn die vertraute Stimme wütet in meinem Kopf wie eine Faust, die einen abgenagten Knochen hält. Wann genau haben wir uns zum letztenmal gesehen? Entweder 2002 oder 03. Wir gingen damals gemeinsam klettern, wir tanzten, bis die Musik uns taub werden ließ, und wir vögelten, bis die Vögel erwachten und sangen und an Altersschwäche starben. Einmal brachten wir dreißig Tage nackt in der Sierra Nevada zu, und wenn das auch nicht gerade so wie in Die blaue Lagune ablief, war es doch eine Erfahrung, die man nie vergißt. Und, na ja, meine edelsten Teile sind durchaus noch in Ordnung, Viagra Supra hab ich nicht nötig und auch keine Penisimplantate, besten Dank, und ich frage mich, wie sie nach so langer Zeit wohl aussieht. Sie ist acht Jahre jünger als ich, und falls die Regeln der Mathematik nicht ebenso zusammengebrochen sind wie alles andere, dann müßte sie jetzt siebenundsechzig sein, was aus meiner Perspektive ein höchst interessantes Alter für eine Frau ist. Also klar, ich werde mich mit ihr treffen.
    Aber nicht hier. So ein großer Narr bin ich auch wieder nicht. Ich vereinbare für heute abend sechs Uhr ein Stelldichein in Swensons Wels-und-Sushi-Restaurant in Solvang, trotz des strömenden Regens und der ausgewaschenen Straßen, denn ich hab den Geländewagen von Mac, und was sie hat oder wie sie hinkommt, ist nicht mein Problem. Jedenfalls noch nicht.
    Aber sie wird dasein, darauf wette ich. Sie will irgendwas – Geld, ein Bett zum Übernachten, Kleider, eine gute Flasche Wein, meine letzte Dose mit Alaska-Königskrabben (inzwischen ausgestorben, so wie alles andere, was im Meer

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