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Ein Freund der Erde

Ein Freund der Erde

Titel: Ein Freund der Erde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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hervor, glätte hier eine Stirn, lifte dort ein Kinn, und immer noch keine Andrea. (Swensons Publikum, falls sich der Leser wundert, rekrutiert sich ausschließlich aus den Jungalten, dem am schnellsten wachsenden Segment der US-Bevölkerung, von denen ich – in Anbetracht der Alternative – ein widerwilliger, aber doch dankbarer Teil bin.)
    Am Ende der Theke fängt eine Frau in Rot meinen Blick auf – das heißt, ich fange ihren auf –, und mein Blut rast wie das eines Teenagers, bis mir klar wird, daß sie keine fünfzig sein kann. Ich sehe noch einmal hin, als sie sich wegdreht und einen Lacher als Reaktion auf irgend etwas ausstößt, das der pensionierte Zahnarzt neben ihr gerade sagt, und ich sehe, daß alles daneben ist: Andrea, und hier ist mir völlig egal, wie alt sie jetzt sein mag – sechzig, fünfundachtzig, hundertzehn –, besitzt das Doppelte an Ausstrahlung. Das Zehnfache. Ja, sicher. Es ist nicht Andrea. Nicht mal entfernt. Aber ist es deshalb weniger deprimierend, mir einzugestehen, daß ich hier im Grunde auf wehen Knien herumstehe, in einem schicken Hemd und mit einer klatschnassen Baskenmütze, die auf meinem kahlen Kopf wie ein Chili-Käse-Omelette aussieht, und auf ein Phantom warte? Noch dazu auf ein blutsaugendes Phantom?
    Ride your pony, ride your pony . Was hat Yeats über das Alter gesagt? Nicht, daß man sein Pony reiten soll. Ein alter Mann ist ein erbärmlich Ding, das sagte er. Zerlumpter Rock über einen Stock gehängt. Brillant formuliert.
    Aber was fühle ich da imNacken? Etwas Feuchtes. Wasser. Allgegenwärtiges Wasser. Ich blicke auf, von den Platten an der Decke tropft es, dann sehe ich auch den Plastikeimer zwischen meinen Füßen – ich stehe praktisch drin –, als ich auf einmal einen Druck auf dem Arm spüre. Es ist ihre Hand, Andreas Hand, das Gefühl, wie sie sich um meinen Bizeps legt, unwiderruflich wie die Geschichte, und was kann ich schon tun, als aufzusehen zu ihrem neuen Gesicht, diesem Gesicht, das wie feuchter Ton über jenem anderen modelliert wurde, das glasiert und gebrannt auf dem Regal in meinem Kopf steht. »Hallo, Ty«, sagt sie, im Eimer plätschert es leise, die zum Schneiden dicke Luft wird von den plärrenden Lautsprechern zerfetzt, die Gäste brabbeln, und ihr beharrlicher Blick hält mich fest. Mir fällt nichts ein. Shiggy schlendert vom anderen Ende des Tresens zu uns, riesenhaft in seinem Hawaiihemd, auf den Lippen die klassische Barkeeperfrage, und dann lächelt sie wie die Sonne, die sich über den Hügeln erhebt. »Hübsche Mütze«, sagt sie.
    Sofort reiße ich sie mir vom Kopf und drehe sie verlegen hinter dem Rücken.
    »Aber Ty« – ein Lachen –, »du hast ja eine Glatze!«
    »Was darf es sein für die Lady?« schreit Shiggy durch den Lärm, und ehe ich noch ein Wort an sie gerichtet habe, wende ich mich an ihn, einen Ignoranten, mit dem ich jeden Tag reden könnte. »Sake on the rocks«, sage ich zu ihm, »außer sie zahlt selber – und ich nehme auch noch einen.« Die Transaktion schenkt mir eine Minute, um mich zu sammeln. Es ist Andrea. Sie ist es wirklich, hier neben mir, in Fleisch und Blut. Die Freude, so rufe ich mir ins Gedächtnis, ist untrennbar verbunden mit ihrem angetrauten Gefährten, dem Schmerz. »Wir werden alle älter«, rufe ich und drehe mich mit den Drinks in der Hand zu ihr um, »wenn wir Glück haben.«
    »Und ich?« Sie tritt ein Stück zurück, wie auf einer Bühne, und hebt theatralisch die Arme. Im ersten Moment denke ich, sie dreht gleich eine Pirouette. Aber ich will hier nicht allzu zynisch klingen, denn es ist lange her, und sie sieht gut aus, sehr gut sogar, acht oder neun auf einer Skala bis zehn, alles in allem. Ihr Mund zieht sich in ein Körbchen aus Furchen und Fältchen zurück, als das Lächeln verblaßt, die Augen haben weniger Farbe und Glanz als in meiner Erinnerung, und sie treten kaum merklich hervor – aber was soll die Haarspalterei? Sie war damals eine Schönheit, und sie ist es noch heute.
    »Du siehst toll aus«, sage ich, »und das rede ich nicht nur so dahin – es stimmt. Du siehst... ich weiß nicht, zum Anbeißen aus. Bist du zum Anbeißen?«
    Das Lächeln kehrt zurück, aber nur eine Sekunde lang, es blitzt über ihr Gesicht wie vom Wind verweht, der jetzt die Fenster scheppern läßt – und zwar hörbar, trotz des Höllenlärms in der Kneipe und meines lädierten Gehörs (das Jimi Hendrix und The Who vor sechzig Jahren zugrunde gerichtet haben). Sie trägt ein geblümtes

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