Ein Freund der Erde
her an einer geflochtenen Lederleine, die ich in einem Schrank im Keller gefunden habe. Sie lebt sich recht gut ein und ich auch, denn ich habe genug von Widersprüchlichkeiten. Den Maulkorb brauchen wir nicht mehr, ebensowenig wie einen Käfig. Sie schläft am Fuß unseres Bettes zusammengerollt auf dem Läufer, hat keine Erinnerung an ein anderes Leben in ihrem Canidenhirn. »Hierher«, befehle ich ihr. »Sitz. Platz.«
»Probier mal, ob sie ›bei Fuß‹ versteht, Ty«, sagt Andrea, und ich suche in meiner Tasche nach einem Kauknochen, dann spreche ich extra leise – »Petunia, bei Fuß«, sage ich –, und sie spitzt die Ohren und setzt sich dicht neben meinem Fuß auf den noch warmen Asphalt.
In diesem Augenblick taucht das Mädchen auf, ganz in Schwarz gekleidet, die Schultern leicht hängend, große Schritte, hochgeschnürte schwarze Stiefel, das Haar von der Farbe wie eine Höhle um Mitternacht. Sie hält den Kopf gesenkt, sieht auf ihre Füße und bemerkt uns erst, als sie uns beinahe umrennt. »Oh, hallo«, sagt sie, weder erschrocken noch überrascht, und ich sehe das Glitzern des dünnen silbernen Ringes, den sie sich durch den linken Nasenflügel gestochen hat. Wie alt ist sie? Ich bin schlecht im Schätzen, aber ich würde meinen, dreizehn oder vierzehn. »Ihr müßt die neuen Leute hier sein, richtig?« fragt sie, und sie hat einen Trällerton in der Stimme, der mich siebenunddreißig Jahre in die Vergangenheit trägt.
Andrea schenkt ihr ein Weltklasselächeln. »Wir sind die Tierwaters«, sagt sie. »Ich bin Andrea, und das ist Ty.«
Das Mädchen nickt. Sie betrachtet jetzt Petunia, schürzt die Lippen ein klein wenig. »Ist das da nicht ein, wie nennt man die noch, ein Afghane?«
»Genau«, sage ich, »ganz recht, das ist ein Hund.« Und dann, aus keinem Grund, den ich benennen könnte, sage ich noch, ohne es zu wollen: »Und ich, ich bin ein Mensch.«
ÜBER DEN AUTOR
T.C. Boyle
T. Coraghessan Boyle, 1948 in Peekskill, N.Y., geboren, unterrichtet an der University of Southern California in Los Angeles. Bei Hanser erschienen zuletzt Willkommen in Wellville (Roman, 1993), América (Roman, 1996), Riven Rock (Roman, 1998), Fleischeslust (Erzählungen, 1999), Ein Freund der Erde (Roman, 2001), Schluß mit cool (Erzählungen, 2002), Drop City (Roman, 2003), Dr. Sex (Roman, 2005), Talk Talk (Roman, 2006), Zähne und Klauen (Erzählungen, 2008), Die Frauen (Roman, 2009) und Das wilde Kind (Erzählung, 2010).
Daten, Fakten, Jahreszahlen
1948 geboren in Peekskill, New York
T.C. Boyle wuchs in schwierigen Familienverhältnissen auf.
Nach ausschweifenden Jugendjahren in der Hippie- und Protestbewegung der 60er Jahre war Boyle Lehrer an der High School in Peekskill und publizierte während dieser Zeit seine ersten Kurzgeschichten in namhaften Zeitschriften.
Heute lebt er mit seiner Frau und drei Kindern in Kalifornien und unterrichtet an der University of Southern California "Creative Writing".
Bibliographie
Im Carl Hanser Verlag sind erschienen
1989 World’s End. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
1991 Wenn der Fluß voll Whiskey wär. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
1992 Der Samurai von Savannah. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
1993 Willkommen in Wellville. Roman. Aus dem Amerikanischen von Anette Gruber
1995 Tod durch Ertrinken. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Anette Gruber
1996 América. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
1998 Riven Rock. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
1999 Fleischeslust. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
2001 Ein Freund der Erde. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
2002 Schluss mit cool. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
2003 Drop City. Roman. Aus dem Amerikanischen von Werner Richter
2005 Dr. Sex. Roman. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
2006 Talk Talk. Roman. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
2008 Zähne und Klauen. Erzählungen. Aus dem Amerikanischen von Anette Grube und Dirk van Gunsteren
2009 Die Frauen. Roman. Aus dem Amerikanischen von Kathrin Razum und Dirk van Gunsteren
2010 Das wilde Kind. Erzählung. Aus dem Amerikanischen von Dirk van Gunsteren
Auszeichnungen
1987 PEN Faulkner-Preis
Weitere Kostenlose Bücher