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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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unter dem Neckholder-Top, ihre gebeugten Schultern, und mir wurde klar, dass sich, selbst wenn sie es noch nicht wusste, alles für sie verändert hatte. Sie würde nicht hierbleiben, ganz gleich, was mit Will Traynor geschah. Sie hatte so einen Ausdruck an sich, einen Ausdruck des Wissens, von Erfahrung, von Orten, die sie kennengelernt hatte. Meine Schwester hatte sich endlich neue Horizonte erschlossen.
    «Oh», sagte ich, als wir zum Burgtor zurückgingen. «Du hast einen Brief bekommen. Von der Uni. Sorry – ich habe ihn aufgemacht. Ich dachte, er muss für mich sein.»
    «Du hast ihn aufgemacht?»
    Ich hatte gehofft, man hätte mein Stipendium erhöht.
    «Du hast ein Bewerbungsgespräch.»
    Sie blinzelte, als bekäme sie eine Botschaft aus einer fernen Vergangenheit.
    «Ja. Und das Wichtigste: Es ist morgen», sagte ich. «Also habe ich gedacht, wir könnten heute Abend über ein paar Fragen reden, die sie dir vielleicht stellen werden.»
    Sie schüttelte den Kopf. «Ich kann morgen nicht zu einem Bewerbungsgespräch gehen.»
    «Was hast du denn sonst vor?»
    «Ich kann nicht, Treen», sagte sie bekümmert. «Wie soll ich denn in so einem Moment über irgendwas richtig nachdenken können?»
    «Hör mal, Lou. Diese Termine werden nicht verteilt wie altes Brot an die Enten, du Hirni. Das ist eine große Sache. Sie wissen, dass du Spätstudierende bist und dass du dich zur falschen Jahreszeit bewirbst, und trotzdem haben sie dich eingeladen. Du kannst mit denen keine Spielchen machen.»
    «Ist mir egal. Ich kann nicht darüber nachdenken.»
    «Aber du …»
    «Lass mich einfach, okay, Treen? Ich kann es nicht. »
    «Hey», sagte ich und stellte mich vor sie, sodass sie nicht weitergehen konnte. Thomas redete ein paar Schritte vor uns mit einer Taube. «Das hier ist genau der Zeitpunkt, zu dem du darüber nachdenken musst. Das ist der Zeitpunkt, zu dem du, ob es dir gefällt oder nicht, entscheiden musst, was du mit dem Rest deines Lebens anfängst.»
    Wir blockierten den Weg. Jetzt mussten die Touristen um uns herumlaufen, was sie mit gesenkten Köpfen oder verstohlenen Blicken auf die streitenden Schwestern taten.
    «Ich kann nicht.»
    «Also, dann sag ich’s dir auf die harte Art. Du hast nämlich, falls du das vergessen haben solltest, keine Arbeit mehr. Und keinen Patrick, der dich unterstützen könnte. Und wenn du das Bewerbungsgespräch sausenlässt, kannst du in zwei Tagen wieder zum Jobcenter gehen und entscheiden, ob du lieber in der Hühnerfabrik arbeiten oder Pole-Tänzerin werden oder irgendwelchen Leuten den Hintern abwischen willst, um dein Geld zu verdienen. Und du kannst es glauben oder nicht, aber damit sind deine Lebensperspektiven als beinahe Dreißigjährige ziemlich ausführlich beschrieben. Und alles andere – alles, was du in den letzten sechs Monaten gelernt hast – war reine Zeitverschwendung. Für den Arsch. Alles.»
    Sie starrte mich mit diesem ohnmächtigen Zorn an, wie immer, wenn sie weiß, dass ich recht habe und sie nichts dagegen sagen kann. Thomas tauchte neben uns auf und zog mich an der Hand.
    «Mum … du hast Arsch gesagt.»
    Meine Schwester funkelte mich immer noch an. Aber ich sah, dass sie nachdachte.
    Ich wandte mich an meinen Sohn. «Nein, Schatz, ich habe Abmarsch gesagt. Wir müssen nämlich jetzt zum Tee nach Hause – oder, Lou? Und danach, während Großmutter dich badet, helfe ich Tante Lou bei ihren Hausaufgaben.»

    Am nächsten Tag ging ich in die Bibliothek, und Mum kümmerte sich um Thomas. Ich begleitete Lou bis zum Bus und wusste, dass sie erst nachmittags zurückkommen würde. Ich machte mir nicht viele Hoffnungen, was dieses Bewerbungsgespräch anging, aber von dem Moment an, in dem wir uns verabschiedeten, dachte ich erst mal nicht mehr an sie.
    Das klingt jetzt vielleicht selbstsüchtig, aber ich kann es nicht leiden, wenn ich mit meinen Seminararbeiten in Verzug komme, und es war eine Erleichterung, eine Pause von Lous Elend zu haben. Mit jemandem zu tun zu haben, der so deprimiert ist, kann ziemlich anstrengend sein. Man hat Mitleid, will den Leuten aber auch sagen, dass sie sich zusammenreißen sollen. Ich steckte meine Familie, meine Schwester und die ganze Tragödie, in die sie sich verstrickt hatte, in eine geistige Schublade, machte sie zu und konzentrierte mich auf das Thema Mehrwertsteuerbefreiung. Ich hatte in Rechnungswesen I die zweitbesten Ergebnisse in meiner Semesterstufe und würde diesen Platz auf keinen Fall wegen der Tücken der

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