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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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Hühnchen wurde kalt, und das Fett erstarrte auf der Servierplatte.
    Dad schüttelte ungläubig den Kopf. Und dann, als meine Schwester von ihrem Rückflug über den Indischen Ozean erzählte und schließlich flüsternd ihre letzten Worte an Mrs. Traynor wiederholte, schob er seinen Stuhl zurück und stand auf. Er ging langsam um den Tisch herum und nahm sie in die Arme, wie er es getan hatte, als wir noch klein waren. Da stand er und hielt sie ganz, ganz fest.
    «Oh, mein Gott, der arme Kerl. Und du Arme. O Gott.»
    Ich weiß nicht, ob ich Dad schon einmal so geschockt erlebt hatte.
    «Was für ein verdammter Schlamassel.»
    «All das hast du durchgemacht? Ohne uns etwas davon zu erzählen? Stattdessen schickst du uns nur eine Postkarte, auf der du von einem Traumstrand schreibst?» Meine Mutter konnte es kaum fassen. «Wir dachten, du verbringst dort den schönsten Urlaub deines Lebens.»
    «Ich war nicht ganz allein damit», sagte sie und sah mich an. «Treena wusste es. Treena war super.»
    «Ich habe eigentlich gar nichts getan», sagte ich und schlang die Arme um Thomas. Er hatte das Interesse an unserem Gespräch verloren, seit Mum eine Dose mit Mini-Schokoriegeln vor ihn gestellt hatte. «Ich habe einfach nur zugehört. Du hast alles gemacht. Du hattest all die Ideen.»
    «Es hat sich ja rausgestellt, was diese Ideen gebracht haben.» Ihre Stimme klang dumpf und hoffnungslos, als sie diese Worte an Dads Brust gedrückt sagte.
    Er hob ihr Kinn an, sodass sie ihn anschauen musste. «Du hast alles getan, was du konntest.»
    «Und ich habe versagt.»
    «Wer behauptet, dass du versagt hast?» Dad strich ihr das Haar aus dem Gesicht. Zärtlich sah er sie an. «Wenn ich daran denke, was ich über Will Traynor weiß, was ich über Männer wie ihn weiß, dann sage ich dir eins: Ich glaube, kein Mensch auf der Welt hätte diesen Mann umstimmen können, wenn er sich einmal etwas vorgenommen hat. Er ist, wie er ist. Man kann die Menschen nicht ändern.»
    «Aber seine Eltern! Sie können doch nicht zulassen, dass er sich umbringt», sagte Mum. «Was sind das bloß für Menschen?»
    «Das sind ganz normale Menschen, Mum. Mrs. Traynor weiß einfach nicht, was sie noch machen soll.»
    «Tja, ihn nicht in diese Klinik zu bringen, wäre schon mal ein Anfang.» Mum war wütend. Auf ihren Wangen hatten sich rote Flecken gebildet. «Ich würde für euch zwei und für Thomas bis zu meinem letzten Atemzug kämpfen.»
    «Selbst wenn er schon versucht hat, sich umzubringen?», sagte ich. «Und zwar auf ziemlich schreckliche Art?»
    «Er ist krank, Katrina. Er ist depressiv. Man sollte Leuten, die so geschwächt sind, keine Gelegenheit geben, etwas zu tun, das sie …» Sie verstummte vor Empörung und tupfte sich mit der Serviette die Augen ab. «Diese Frau muss vollkommen herzlos sein. Herzlos. Und dann auch noch Louisa in das alles zu verwickeln. Das muss man sich mal vorstellen. Diese Frau ist Richterin, Himmel noch mal. Man würde doch erwarten, dass eine Richterin beurteilen kann, was richtig und falsch ist. Ausgerechnet sie. Ich hätte große Lust, gleich jetzt dorthin zu fahren und ihn hierherzuholen.»
    «Das ist alles ziemlich kompliziert, Mum.»
    «Nein. Ist es nicht. Er ist verletzlich, und sie dürfte nicht einmal den Gedanken daran zulassen. Ich bin richtig geschockt. Der arme Mann. Der arme Mann.» Sie stand auf, nahm die Servierplatte mit den Hühnchenresten und stapfte in die Küche.
    Louisa sah ihr erstaunt nach. Mum wurde nie wütend. Ich glaube, das letzte Mal davor hatten wir sie im Jahre 1993 die Stimme erheben hören.
    Dad schüttelte den Kopf, mit den Gedanken offensichtlich woanders. «Mir fällt gerade ein – kein Wunder, dass ich Mr. Traynor in letzter Zeit nicht gesehen habe. Ich hatte mich gefragt, wo er ist. Ich dachte, sie sind alle zusammen in die Ferien gefahren oder so.»
    «Sie sind … sie sind weggefahren?»
    «Gestern und vorgestern war er jedenfalls nicht da.»
    Lou ließ sich schwer auf ihren Stuhl sinken.
    «Oh, Scheiße», sagte ich, und dann legte ich Thomas die Hände über die Ohren.
    «Es ist morgen.»
    Lou sah mich an, und ich schaute zu dem Kalender, der an der Wand hing.
    «Der dreizehnte August. Das ist morgen.»

    Lou tat nichts an diesem letzten Tag. Sie war vor mir aufgestanden und starrte aus dem Küchenfenster. Es regnete, und dann klarte es auf, und dann regnete es wieder. Sie lag mit Großvater auf dem Sofa, und sie trank den Tee, den Mum für sie gemacht hatte, und

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