Ein ganzes halbes Jahr
Finanzamtsrichtlinien verlieren.
Ich kam ungefähr um Viertel vor sechs wieder nach Hause und legte meine Unterlagen auf den Stuhl im Flur, während die anderen schon um den Küchentisch herumschlichen und Mum das Essen verteilte. Thomas sprang mir in die Arme, schlang seine Beine um meine Hüfte, und ich küsste ihn und atmete seinen süßen, hefigen Kleinejungengeruch ein.
«Setz dich, setz dich», sagte Mum. «Dad ist auch gerade erst zurück.»
«Wie kommst du mit deinen Büchern klar?», sagte Dad und hängte sein Jackett über die Stuhllehne. Er redete immer von ‹meinen Büchern›. Als wären sie lebendig und müssten irgendwie erzogen und zur Ordnung gerufen werden.
«Gut, danke. Ich bin mit der Rechnungswesen-II-Einheit schon zu drei Vierteln fertig. Morgen fange ich mit Körperschaftsrecht an.» Ich befreite mich von Thomas’ Umklammerung, setzte ihn auf den Stuhl neben mir und strich ihm übers Haar.
«Hast du das gehört, Josie? Körperschaftsrecht.» Dad mopste sich eine Kartoffel aus der Schale und steckte sie in den Mund, bevor Mum etwas davon mitbekam. Er sprach das Wort aus, als würde er seinen Klang richtig genießen. Vermutlich war es auch so. Wir unterhielten uns ein bisschen über die Themen meiner Lerneinheit. Dann redeten wir über Dads Job – es ging hauptsächlich darum, dass die Touristen alles kaputt machten. Anscheinend gab es unglaublich viele Wartungsarbeiten zu erledigen. Sogar die Holzpfosten am Parkplatztor mussten alle paar Wochen ersetzt werden, weil die Idioten ihr Auto nicht durch ein vier Meter breites Tor fahren konnten. Ich hätte solche Reparaturkosten auf den Eintrittspreis draufgeschlagen, aber das ist nur meine persönliche Meinung.
Mum stellte die übrigen Schüsseln auf den Tisch und setzte sich endlich selbst. Thomas aß mit den Fingern, wenn er dachte, keiner würde hinschauen, und flüsterte mit einem verstohlenen Lächeln Arsch vor sich hin, während Großvater mit zur Decke gewandtem Blick aß, als wäre er mit den Gedanken ganz woanders. Ich schaute zu Lou hinüber. Sie starrte auf ihren Teller und schob ihr Stück Grillhühnchen darauf herum. Oh-oh , dachte ich.
«Keinen Hunger, Liebes?», sagte Mum, die meinem Blick gefolgt war.
«Nicht so richtig», sagte sie.
«Es ist auch ziemlich warm für Hühnchen», räumte Mum ein. «Ich dachte einfach, du brauchst was, um dich ein bisschen zu stärken.»
«Und? Erzählst du uns, wie dieses Bewerbungsgespräch gelaufen ist?» Dads Gabel blieb auf halbem Weg zu seinem Mund stehen.
«Oh, das.» Sie wirkte unaufmerksam, als hätte er etwas angesprochen, das sie vor fünf Jahren gemacht hatte.
«Ja, das.»
Sie spießte ein winziges Stückchen Huhn auf. «Es war okay.»
Dad warf mir einen Blick zu.
Ich zuckte mit den Schultern. «Was heißt okay? Sie müssen dir doch gesagt haben, was du für einen Eindruck gemacht hast.»
«Ich habe es bekommen.»
«Was?»
Sie starrte immer noch auf ihren Teller. Ich hörte auf zu kauen.
«Sie haben gesagt, ich wäre genau die Bewerberin, die sie gesucht hätten. Ich muss einen Grundlagenkursus machen, der dauert ein Jahr und wird dann angerechnet.»
Dad lehnte sich zurück. «Das sind ja großartige Neuigkeiten.»
Mum beugte sich über den Tisch und klopfte ihr auf die Schulter. «Oh, gut gemacht, Liebes. Das ist wundervoll.»
«Na ja, eigentlich nicht so richtig. Ich glaube nicht, dass ich mir vier Jahre Studium leisten kann.»
«Jetzt mach dir darüber erst mal keine Gedanken. Wirklich. Treena kommt doch auch gut klar», sagte Dad. «Hey. Wir finden schon einen Weg. Wir finden doch immer einen Weg, oder?» Er strahlte uns beide an. «Ich glaube, so langsam wendet sich alles zum Guten, ihr zwei. Ich glaube, unsere Familie hat gute Zeiten vor sich.»
Und dann, einfach so, brach sie in Tränen aus. Richtige Tränen. Sie weinte, wie Thomas weinte, heulte Rotz und Wasser, und es war ihr egal, wer sie hörte, und ihr Schluchzen schnitt wie ein Messer in die Stille des kleinen Raumes.
Thomas starrte sie mit aufgerissenem Mund an, sodass ich ihn auf meinen Schoß ziehen und ablenken musste, damit er nicht auch anfing zu weinen. Und während ich mit Kartoffelstückchen herumspielte und mit verstellter Stimme Erbsen sprechen ließ, erzählte sie es ihnen.
Sie erzählte ihnen alles – über Will und den Sechsmonatsvertrag und was auf Mauritius passiert war. Während sie sprach, legte Mum entsetzt die Hand auf den Mund. Großvater schaute ernst vor sich hin. Das
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