Ein ganzes halbes Jahr
meiner Schande muss ich gestehen, dass ich meine Sonnenbrille aufsetzte – nicht, um meine Erschöpfung zu verbergen, sondern damit sie mir nicht sofort am Gesicht ablesen konnte, was ich ihr sagen musste.
«Sieh ihn dir an!», rief sie aus. «Will, du siehst großartig aus. Wirklich großartig.»
Wills Vater hatte sich heruntergebeugt, klopfte seinem Sohn auf die Schulter und aufs Knie, ein breites Lächeln im Gesicht. «Wir konnten es kaum glauben, als Nathan uns erzählt hat, dass du jeden Tag am Strand bist. Und schwimmst! Wie war das Wetter? Schön und warm? Hier hat es bloß geschüttet. Typisch August!»
Natürlich. Nathan hatte sie auf dem Laufenden gehalten. Nie hätten sie uns die ganze Zeit verreisen lassen, ohne zu wissen, was los war.
«Es … es war ein richtig tolles Hotel», sagte Nathan. Er war ebenfalls schweigsam, versuchte aber zu lächeln und sich normal zu verhalten.
Ich war vollkommen erstarrt und umklammerte meinen Pass, als wollte ich gleich woandershin fliegen. Ich musste mich ermahnen, ruhig weiterzuatmen.
«Also, wir haben gedacht, wir könnten schön essen gehen», sagte Wills Vater. «Es gibt ein sehr gutes Restaurant im Intercontinental. Trinken wir ein Gläschen Champagner. Was meinst du? Deine Mutter und ich dachten, das könnte dir gefallen.»
«Klar», sagte Will. Er lächelte seine Mutter an, und sie sah aus, als hätte sie dieses Lächeln am liebsten für schlechte Zeiten eingeweckt. Wie kannst du nur? , wollte ich ihn anbrüllen. Wie kannst du sie nur so anschauen, wenn du genau weißt, was du ihr antun wirst?
«Dann los. Ich habe den Wagen auf einem Behindertenparkplatz abgestellt. Ganz in der Nähe. Ich war sicher, dass ihr alle ein bisschen Jetlag habt. Nathan, soll ich eine von den Taschen nehmen?»
Meine Stimme unterbrach das Gespräch. «Ehrlich gesagt», und damit zog ich schon mein Gepäck von der Karre, «möchte ich mich lieber gleich auf den Weg machen. Aber trotzdem vielen Dank.»
Ich konzentrierte mich auf meine Tasche, sah sie absichtlich nicht an, aber selbst in all dem Lärm der Flughafenhalle hörte ich das kurze Schweigen, das meine Worte hervorriefen.
Mr. Traynor sagte als Erster etwas. «Kommen Sie, Louisa. Feiern wir ein bisschen zusammen. Wir wollen hören, was Sie erlebt haben. Ich möchte alles über die Insel wissen. Aber ich verspreche, dass Sie uns nicht jedes Detail erzählen müssen.» Er kicherte beinahe.
«Ja.» In Mrs. Traynors Stimme lag eine gewisse Schärfe. «Kommen Sie doch mit, Louisa.»
«Nein.» Ich schluckte und versuchte, ein unverbindliches Lächeln aufzusetzen. Meine Sonnenbrille war wie ein Schutzschild für mich. «Danke. Ich fahre lieber gleich zurück.»
«Wohin?», fragte Will.
Mir ging auf, was er damit sagte. Ich hatte im Grunde kein Zuhause, zu dem ich fahren konnte.
«Ich gehe zu meinen Eltern. Das ist okay.»
«Komm mit uns», sagte er mit sanfter Stimme. «Geh nicht, Clark. Bitte.»
Ich hätte am liebsten angefangen zu weinen. Aber ich wusste ganz genau, dass ich es nicht aushalten konnte, in seiner Nähe zu sein. «Nein. Danke. Ich hoffe, es wird schön im Restaurant.» Ich hievte mir die Tasche über die Schulter, und bevor noch jemand etwas sagen konnte, ging ich von ihnen weg, ließ mich von der Menschenmenge in der Flughafenhalle verschlucken.
Ich war schon beinahe an der Bushaltestelle, als ich sie hörte. Camilla Traynor, die mit klappernden Absätzen hinter mir herrannte.
«Halt. Louisa. Bitte, bleiben Sie stehen.»
Ich drehte mich um, und sie drängte sich durch eine Reisegruppe, schob Teenager mit Rucksäcken weg, als wäre sie Moses, der die Wellen des Roten Meers teilt. Die Flughafenbeleuchtung spielte auf ihrem Haar, ließ es kupferfarben aufschimmern. Sie trug einen zarten Pashmina-Schal, den sie kunstvoll über eine Schulter drapiert hatte. Ich weiß noch, dass ich geistesabwesend dachte, wie schön sie bis vor wenigen Jahren gewesen sein musste.
«Bitte. Bitte, bleiben Sie stehen.»
Ich blieb stehen, sah über die Schulter die Straße entlang, hoffte, dass der Bus kommen würde, dass er mich aufnehmen und wegbringen würde. Dass irgendetwas passieren würde. Meinetwegen ein Erdbeben.
«Louisa?»
«Er hat die Reise genossen.» Meine Stimme klang abgehackt. Beinahe wie ihre, ging es mir durch den Kopf.
«Er sieht gut aus. Sehr gut.» Sie starrte mich an, stand direkt vor mir auf dem Gehweg. Sie rührte sich nicht mehr, war wie ein Fels in dem Gewoge der Menschen um sie herum.
Wir
Weitere Kostenlose Bücher