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Ein ganzes halbes Jahr

Ein ganzes halbes Jahr

Titel: Ein ganzes halbes Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jojo Moyes
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Teebecher auf den Nachttisch.
    Sie blinzelte mich an.
    «Mum glaubt, du hast den Ebola-Virus. Sie warnt gerade alle Nachbarn, die beim Bingoclub die Reise nach Port Aventura gebucht haben.»
    Sie sagte nichts.
    «Lou?»
    «Ich habe gekündigt», sagte sie leise.
    «Warum?»
    «Warum wohl?» Sie schob sich hoch, griff ungeschickt nach dem Teebecher und trank einen großen Schluck.
    Für jemanden, der gerade fast zwei Wochen auf Mauritius gewesen war, sah sie verdammt schlecht aus. Ihre Augen waren winzig und rot gerändert, und ihre Haut wäre ohne die Bräune noch fleckiger gewesen. Ihr Haar stand an einer Seite vom Kopf ab. Sie sah aus, als hätte sie seit Urzeiten keinen Schlaf bekommen. Aber vor allem sah sie traurig aus. Ich hatte meine Schwester noch nie dermaßen traurig gesehen.
    «Glaubst du, er zieht es wirklich durch?»
    Sie nickte. Dann schluckte sie mühsam.
    «Shit. Oh, Lou. Das tut mir leid.»
    Mit einer Geste bedeutete ich ihr, dass sie rutschen sollte, und legte mich neben sie aufs Bett. Sie trank noch einen Schluck Tee, dann lehnte sie ihren Kopf an meine Schulter. Sie trug mein T-Shirt. Ich sagte nichts dazu. So leid tat sie mir.
    «Was soll ich jetzt bloß machen, Treen?»
    Ihre Stimme war piepsig, wie bei Thomas, wenn er sich weh getan hat und tapfer sein will. Draußen hörten wir den Nachbarshund am Gartenzaun die Katzen auf der anderen Seite jagen.
    «Ich weiß nicht, ob du irgendetwas tun kannst. O Gott. Was du alles für ihn organisiert hast. All die Mühe …»
    «Ich habe ihm gesagt, dass ich ihn liebe», sagte sie flüsternd. «Und er hat einfach gesagt, das genügt ihm nicht.» Sie sah mich mit hoffnungslosem Blick an. «Wie soll ich bloß damit leben?»
    Ich bin in unserer Familie diejenige, die alles weiß. Ich habe mehr gelesen als alle anderen. Ich gehe zur Universität. Ich bin diejenige, die auf alles eine Antwort haben soll.
    Aber jetzt sah ich meine große Schwester an und schüttelte den Kopf. «Ich habe keine Ahnung.»

    Am nächsten Tag kam sie endlich heraus, duschte und zog frische Sachen an, und ich erklärte Mum und Dad, sie sollten kein Wort darüber verlieren. Ich tat so, als hätte sie Liebeskummer, und Dad zog die Augenbrauen hoch und machte ein Gesicht, als würde das alles erklären, und nur Gott allein wüsste, was wir uns für schreckliche Sorgen gemacht hatten. Mum hastete ans Telefon, um den Leuten vom Bingoclub zu sagen, dass sie die Gefahren von Flugreisen wohl doch überschätzt hatte.
    Lou aß einen Toast (ein Mittagessen wollte sie nicht), dann setzte sie einen großen Schlabbersonnenhut auf, und wir gingen mit Thomas zur Burg, um die Enten zu füttern. Ich glaube, sie wollte eigentlich nicht aus dem Haus, aber Mum bestand darauf, dass wir alle ein bisschen frische Luft bräuchten. Das bedeutete in der Sprache meiner Mutter, dass es sie in den Fingern juckte, ins Schlafzimmer zu gehen, es auszulüften und die Bettwäsche zu wechseln. Thomas sprang vor uns her, eine Tüte mit Brotresten in der Hand, und wir wichen den herumwandernden Touristen mit dem Geschick unserer jahrelangen Erfahrung aus, duckten uns unter Rucksäcken weg, liefen rechts und links um Paare herum, um dann wieder nebeneinander weiterzugehen. Die Burg schmorte in der Sommerhitze, der Boden war ausgedörrt und das Gras brüchig, wie das letzte Haar eines kahl werdenden Mannes. Die Blumen in den Kübeln wirkten müde, als würden sie sich schon auf den Herbst vorbereiten.
    Lou und ich redeten nicht viel. Was gab es schon zu sagen?
    Als wir an dem Touristenparkplatz vorbeikamen, sah ich, wie sie unter der Krempe ihres Hutes zum Haus der Traynors hinüberschaute. Da stand es, ein vornehmer roter Backsteinbau, dessen hohe, spiegelnde Fenster verbargen, welches existenzielle Drama sich dort drinnen abspielte, vielleicht sogar in diesem Augenblick.
    «Wenn du willst, kannst du hingehen und mit ihm reden, weißt du», sagte ich. «Ich warte hier auf dich.»
    Sie schaute auf den Boden, verschränkte die Arme vor der Brust, und wir gingen weiter. «Das hat keinen Zweck», sagte sie. Ich wusste, wie die andere Hälfte des Satzes lautete, die sie nicht ausgesprochen hatte. Er ist wahrscheinlich nicht mal da.
    Wir gingen langsam einmal um die Burg, sahen Thomas zu, der sich den Hügel hinunterkugelte und die Enten fütterte, die nach der ganzen Touristensaison so fettgefressen waren, dass sie sich kaum mit noch mehr Brot anlocken ließen. Beim Gehen betrachtete ich meine Schwester, ihren braunen Rücken

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