Ein ganzes halbes Jahr
ich nach oben und riss Thomas so unvermittelt aus der Badewanne, dass mein kleiner Junge gar nicht wusste, wie ihm geschah. Da stand er, so fest in ein Badetuch gewickelt wie in einen Druckverband, und die stotternde, verwirrte Lou war schon halb die Treppe hinunter, zu der ich sie an den Schultern geschoben hatte.
«Und wenn sie mich hasst?»
«Sie klang überhaupt nicht, als würde sie dich hassen.»
«Aber was ist, wenn die Presse sie dorthin verfolgt hat? Was ist, wenn sie denken, das wäre meine Schuld?» Sie hatte die Augen weit aufgerissen und schaute mich entsetzt an. «Was ist, wenn sie angerufen hat, um zu sagen, dass er es getan hat?»
«Oh, jetzt komm schon, Lou. Reiß dich einmal im Leben zusammen. Du erfährst überhaupt nichts, wenn du nicht anrufst. Ruf sie an. Ruf einfach an. Du hast sowieso keine Wahl.»
Ich rannte ins Badezimmer zurück, um Thomas zu befreien. Ich steckte ihn in seinen Schlafanzug und erklärte ihm, dass Großmutter einen Keks für ihn hätte, wenn er superschnell in die Küche rannte. Und dann spähte ich aus dem Badezimmer, um meine Schwester unten im Flur am Telefon zu beobachten.
Sie stand mit dem Rücken zu mir und strich sich mit einer Hand die Haare im Nacken glatt. Dann streckte sie die Hand aus, um sich im Gleichgewicht zu halten.
«Ja», sagte sie. «Ich verstehe.» Und dann: «Okay.»
Und nach einer Pause: «Ja.»
Noch eine Ewigkeit, nachdem sie aufgelegt hatte, starrte sie vor sich auf den Fußboden.
«Und?», sagte ich.
Sie sah auf, als hätte sie mich jetzt erst bemerkt, und schüttelte den Kopf.
«Es hatte nichts mit der Presse zu tun», sagte sie, die Stimme immer noch gedämpft vom Schock. «Sie hat mich gebeten … mich angefleht … in die Schweiz zu kommen. Und sie hat mir auf dem letzten Flug heute Abend einen Platz gebucht.»
[zur Inhaltsübersicht]
Kapitel 26
U nter anderen Umständen hätte es seltsam erscheinen können, dass ich, Lou Clark, die sich zwanzig Jahre lang selten weiter als eine kurze Busfahrt von ihrer Heimatstadt entfernt hatte, nun innerhalb von einer Woche in drei Ländern war. Aber ich packte eine Übernachtungstasche mit der zügigen Effektivität einer Stewardess und nahm nur das Notwendigste mit. Treena lief schweigend herum und suchte Sachen heraus, die ich eventuell auch noch brauchen könnte, und dann gingen wir nach unten. Auf halbem Wege blieben wir stehen. Mum und Dad standen schon im Hausflur, Seite an Seite, genauso unheilverkündend wie früher, wenn wir uns nach dem Ausgehen viel zu spät durch die Hintertür ins Haus geschlichen hatten.
«Was geht hier vor?» Mum starrte meine Reisetasche an.
Treena hatte sich vor mich gestellt.
«Lou fährt in die Schweiz», sagte sie. «Und sie muss jetzt sofort los. Es gibt heute nur noch einen Flug.»
Wir wollten gerade weiter, als Mum einen Schritt vortrat.
«Nein.» Ihr Mund war zu einer untypischen Linie zusammengepresst, die Arme hatte sie unbehaglich vor der Brust verschränkt. «Das meine ich ernst. Ich will nicht, dass du damit etwas zu tun hast. Wenn es das ist, was ich denke, dann sage ich nein.»
«Aber …», fing Treena an und warf mir über die Schulter einen Blick zu.
«Nein», sagte Mum mit einem ungewohnten, eisernen Tonfall. «Kein Aber. Ich habe darüber nachgedacht, über alles, was du uns erzählt hast. Es ist falsch. Moralisch falsch. Und wenn du dich in eine Sache verwickeln lässt, in der es darum geht, einem Mann beim Selbstmord zu helfen, kannst du alle möglichen Probleme bekommen.»
«Deine Mum hat recht», sagte Dad.
«Wir haben einen Beitrag darüber in den Nachrichten gesehen. Das könnte dein ganzes Leben beeinflussen, Lou. Die Bewerbung an der Uni, alles. Und wenn du eine Vorstrafe hast, kannst du keinen Uniabschluss machen oder dich um eine gute Stelle bewerben, und …»
«Er hat sie darum gebeten, zu kommen. Das kann sie doch nicht einfach ignorieren», unterbrach sie Treena.
«Doch. Doch, das kann sie. Sie hat seiner Familie schon sechs Monate ihres Lebens geopfert. Man sieht ja, was es ihr gebracht hat. Was es unserer Familie gebracht hat, irgendwelche Leute, die bei uns an die Tür hämmern, sodass sämtliche Nachbarn denken, wir werden fertiggemacht, weil wir uns Sozialleistungen erschlichen haben, oder so. Nein, jetzt hat sie endlich die Gelegenheit, etwas aus sich zu machen, und ausgerechnet in diesem Moment wollen sie, dass sie an diesen grässlichen Ort in der Schweiz fährt und sich in Gott weiß was verwickeln
Weitere Kostenlose Bücher