Ein ganzes halbes Jahr
«Irgendwer muss es ihnen erzählt haben. Wer weiß davon?»
«Miss Clark», tönte die Stimme der Frau durch den Briefschlitz in der Tür. «Wenn Sie nur zehn Minuten für mich hätten … wir verstehen, dass es ein sehr sensibles Thema ist. Wir würden gerne auch Ihre Sichtweise …»
«Heißt das, er ist tot?» Ihre Augen schwammen in Tränen.
«Nein, es heißt, dass irgendein Arsch damit Geld machen will.» Ich dachte kurz nach.
«Wer war das, Mädchen?», rief Mum die Treppe hinauf.
«Niemand, Mum. Geh einfach nicht an die Tür.»
Ich spähte übers Treppengeländer. Mum hatte ein Geschirrtuch in der Hand und betrachtete den Schatten, der durch die Glasscheiben der Haustür zu sehen war.
«Ich soll nicht an die Tür gehen?»
Ich nahm meine Schwester am Ellbogen. «Lou … du hast doch Patrick nichts davon erzählt, oder doch?»
Sie musste nicht antworten. Ihr betroffenes Gesicht sagte alles.
«Okay. Keine Aufregung. Bleib einfach von der Tür weg. Geh nicht ans Telefon. Red kein Wort mit denen, okay?»
Mum fand das alles überhaupt nicht lustig. Und noch weniger lustig fand sie es, als das Telefon zu klingeln anfing. Nach dem fünften Anruf stellten wir den Anrufbeantworter an, aber wir mussten es uns ja trotzdem anhören, und die Stimmen drangen in unseren engen Flur ein wie eine Besatzungsarmee. Es kamen vier oder fünf solcher Anrufe direkt hintereinander, und alle lauteten gleich. Alle boten Lou an, ihre Seite der ‹Story› zu erzählen, wie sie es nannten. Als ob Will Traynor jetzt ein Sonderangebot wäre, auf das sie sich alle stürzten. Das Telefon klingelte, und an der Tür klingelte es auch. Wir saßen bei zugezogenen Vorhängen im Wohnzimmer, hörten, wie sich die Reporter vor unserer Gartentür auf dem Gehweg unterhielten oder telefonierten.
Es war der reinste Belagerungszustand. Mum rang die Hände und schrie den Reportern, die sich auf unser Grundstück wagten, durch den Briefschlitz zu, sie sollten sich sofort aus unserem Garten scheren. Thomas beobachtete sie durch das Badezimmerfenster im ersten Stock und fragte, warum da Leute in unserem Garten waren. Vier von unseren Nachbarn riefen an und wollten wissen, was los war. Dad parkte in der Ivy Street und kam durch die Hintertür ins Haus, und wir überlegten kurz, ob wir kochendes Öl aus dem Fenster auf sie schütten sollten, wie bei der Verteidigung einer Burg.
Dann, als ich ein bisschen nachgedacht hatte, rief ich Patrick an und fragte, wie viel er für seinen schäbigen kleinen Tipp kassiert hatte. Das kurze Zögern, bevor er leugnete, sagte mir alles, was ich wissen wollte.
«Du Scheißkerl!», brüllte ich. «Ich trete dir so fest an deine hässlichen Marathon-Schienbeine, dass du wirklich denkst, der 157ste Platz wäre ein gutes Ergebnis.»
Lou saß in der Küche und weinte. Sie schluchzte nicht, ihr rollten einfach nur die Tränen übers Gesicht, und sie wischte sie manchmal mit der Handfläche weg. Mir fiel nichts ein, womit ich sie trösten konnte.
Aber das war in Ordnung. Es gab genügend andere, denen ich eine Menge zu sagen hatte.
Bis auf einen waren um halb acht sämtliche Journalisten verschwunden. Ich weiß nicht, ob sie aufgegeben hatten, oder ob ihnen Thomas’ Spiel langweilig geworden war, jedes Mal, wenn sie einen Zettel durch den Briefschlitz steckten, einen Legostein als Antwort hinauszuschicken. Ich bat Louisa, Thomas für mich zu baden. Vor allem, weil ich sie aus der Küche haben wollte, aber auch, weil ich so die ganzen Nachrichten auf dem Anrufbeantworter abhören und die von der Presse löschen konnte, während sie nicht zuhörte. Sechsundzwanzig. Sechsundzwanzig Ärsche. Und alle klangen so nett, so verständnisvoll. Ein paar boten Louisa sogar Geld an.
Ich löschte sie alle. Auch die mit den Geldangeboten, obwohl ich zugeben muss, dass ich ein winziges bisschen daran interessiert war, wie viel es wohl wäre. Die ganze Zeit hörte ich Lou mit Thomas im Badezimmer reden und das Heulen und Spritzen, mit dem er sein Batmobil Sturzflüge in das knöchelhohe Seifenwasser machen ließ. Das ist so etwas, das man erst über Kinder weiß, wenn man sie hat – Badezeit, Lego und Fischstäbchen machen es einem unmöglich, sich lange mit Tragödien aufzuhalten. Und dann kam ich zur letzten Nachricht.
«Louisa? Hier ist Camilla Traynor. Würden Sie mich bitte zurückrufen? So bald wie möglich?»
Ich starrte den Anrufbeantworter an. Ich spulte zurück und spielte die Nachricht noch einmal ab. Dann rannte
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