Ein ganzes halbes Jahr
Strafe genug wäre, in einem verdammten Rollstuhl zu landen, schicken sie ihm als Gesellschaft auch noch unsere Lou.»
«Bernard!», schimpfte meine Mutter.
Hinter mir kicherte mein Großvater in seinen Teebecher.
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Kapitel 2
I ch bin nicht dumm. Das will ich an dieser Stelle einfach mal betonen. Allerdings ist es ziemlich schwer, sich in der Gehirnzellenabteilung nicht unterversorgt zu fühlen, wenn man mit einer kleineren Schwester aufwächst, die nicht nur eine Klasse übersprungen hat, sodass sie in meiner war, sondern noch eine, und damit war sie in der Klasse über mir.
Alles, was man von einem Kind an vernünftigem oder klugem Handeln erwarten kann, hat Katrina als Erste getan, obwohl sie anderthalb Jahre jünger ist. Jedes Buch, das ich je gelesen habe, hatte sie vorher schon gelesen, und über alles, was ich am Essenstisch ansprach, wusste sie schon längst Bescheid. Sie ist der einzige Mensch, den ich kenne, der richtig gern Prüfungen ablegt. Manchmal glaube ich, dass ich mich so anziehe, wie ich es tue, weil das Einzige, was Treena nicht hat, Modegeschmack ist. Sie ist der Pullover-Jeans-Typ. Und wenn sie mal schick sein will, bügelt sie ihre Jeans, bevor sie sie anzieht.
Mein Vater nennt mich einen «Charakter», weil ich dazu neige, alles sofort auszusprechen, was mir in den Kopf kommt. Er sagt, ich wäre wie meine Tante Lily, die ich nie kennengelernt habe. Es ist ein bisschen komisch, ständig mit jemandem verglichen zu werden, dem man nie begegnet ist. Als ich zum Beispiel mal mit violetten Stiefeln runterkam, nickte Dad meiner Mum zu und sagte: «Weißt du noch, Tante Lily und ihre violetten Stiefel?» Und dann gluckste Mum los, und sie lachten, als hätte Dad einen Witz gemacht, den ich nicht verstand. Meine Mutter nennt mich dagegen «eigenwillig», und damit drückt sie höflich aus, dass sie meine Art, mich anzuziehen, nicht versteht.
Aber abgesehen von einer kurzen Phase als Teenager wollte ich nie so aussehen wie Treena oder wie sonst eins von den Mädchen aus meiner Schule. Bis ich vierzehn war, zog ich am liebsten Jungsklamotten an, und inzwischen gefalle ich mir am besten in Sachen, die zu meiner jeweiligen Stimmung passen. Es hat keinen Zweck, wenn ich versuche, durchschnittlich auszusehen. Ich bin klein, dunkelhaarig, und meinem Dad zufolge habe ich ein Elfengesicht. Damit meint er nicht, ich wäre schön wie eine Elfe. Ich bin nicht hässlich, aber ich glaube nicht, dass mich irgendwer jemals für eine Schönheit halten wird. Mit der Anmut habe ich’s auch nicht so. Wenn er Sex will, sagt Patrick immer, ich wäre umwerfend, aber er ist ziemlich leicht zu durchschauen. Nach fast sieben Jahren Beziehung kennt man sich außerdem ganz gut.
Jetzt war ich also sechsundzwanzig Jahre alt und wusste immer noch nicht so richtig, wer ich war. Bis ich meinen Job im Café verlor, hatte ich darüber ohnehin nie ernsthaft nachgedacht. Ich ging davon aus, dass ich vermutlich Patrick heiraten, ein paar Kinder kriegen und ein paar Straßen von dort entfernt wohnen würde, wo ich bisher gewohnt hatte. Abgesehen von meinem leicht exotischen Kleidergeschmack und der Tatsache, dass ich ziemlich klein bin, unterscheidet mich nicht viel von irgendwem, dem Sie auf der Straße begegnen. Vermutlich würden Sie keinen zweiten Blick auf mich werfen. Eine ganz normale junge Frau, die ein ganz normales Leben führt. Und das passte mir sehr gut, ehrlich gesagt.
«Zu einem Bewerbungsgespräch zieht man ein Kostüm an», hatte Mum gesagt. «Heutzutage wissen die Leute einfach nicht mehr, was sich gehört.»
«Weil Nadelstreifen so entscheidend sind, wenn man einen alten Knacker füttert.»
«Spiel nicht die Schlaumeierin.»
«Ich kann mir kein Kostüm leisten. Und was ist, wenn ich den Job trotzdem nicht kriege?»
«Du kannst meins anziehen, und ich bügle dir eine schöne Bluse, und dreh dein Haar mal ausnahmsweise nicht zu diesen …», sie deutete auf meine Frisur, die gewöhnlich aus zwei dunklen Haarknoten bestand, die ich mir seitlich am Kopf feststeckte, «… Prinzessin-Leia-Dingern. Versuch einfach mal, wie ein ganz normaler Mensch auszusehen.»
Ich war nicht so dumm, einen Streit mit meiner Mutter anzufangen. Und ich wusste genau, dass sie Dad angewiesen hatte, sich jeden Kommentar über mein Aussehen zu verkneifen, als ich leicht verkrampft aus dem Haus ging, weil der Rock zu eng war.
«Tschüs, Liebes», sagte er mit zuckenden Mundwinkeln. «Viel Glück. Du siehst
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