Ein ganzes Leben mit dem Asperger-Syndrom

zwischen den zwei »Identitäten« kann eines der Symptome des Asperger-Syndroms darstellen.
Anzeichen für Depression oder Bullying
    Das gewählte Thema kann ebenfalls klinisch bedeutsam sein. Wenn sich derjenige plötzlich mit einem morbiden oder makabren Thema wie dem Tod beschäftigt, weist dies eventuell auf eine Depression hin; ein Interesse für Waffen, Kampfsport und Rache kann dagegen ein Zeichen dafür sein, dass das Kind in der Schule gemobbt wird (siehe Kapitel 4).
    Manchmal sammelt die Person Informationen zu einem Thema, das für Leiden oder Verwirrung gesorgt hat, um eine bestimmte Situation oder ein Gefühl zu verstehen. Dazu kann auch der Tod zählen. Ein Beispiel hierfür liefert ein Kind mit Asperger-Syndrom, das ein enges Verhältnis zu seinem Großvater hatte. Die beiden sind oft gemeinsam in der Umgebung der Familienfarm spazieren gegangen und haben sich intensiv über Tiere und über die Maschinen auf der Farm unterhalten. Auf einem dieser Spaziergänge erlitt der Großvater einen Herzstillstand und starb. Das Kind schien den Tod seines Großvaters nicht auf die übliche Art und Weise zu betrauern, sondern begann sich für Herzkrankheiten zu interessieren. Es las so viele Bücher zu diesem Thema, wie es finden konnte. Es wollte ganz genau wissen, warum und wie sein bewunderter Großvater gestorben ist.
Wenn das Spezialinteresse zum Zwang wird
    Das Interesse kann so intensiv werden und das Leben der Person so sehr dominieren, dass es für denjenigen kein Vergnügen mehr darstellt, sondern unwiderstehlich und unerwünscht geworden ist. Die Unfähigkeit, die Zeitdauer zu begrenzen, die man für sein Spezialinteresse aufwendet, kann ein Zeichen für die Entwicklung einer Zwangsstörung sein. 40 Luke Jack son erklärte in seiner Autobiografie: »Ich konnte nicht damit anfangen, das Gefühl zu erklären, wenn dem nicht ein bestimmter Ablauf vorherging. Ich fühlte mich sonst, als würde mein ganzer Körper explodieren.« 41
Wenn das Spezialinteresse die psychologische »Grenze« überschreitet und sich ungewollt aufdrängt oder sich negativ auf die Lebensqualität auswirkt, könnte der Betroffene professionelle Hilfe gegen eine Zwangsstörung benötigen (siehe Kapitel 6).
Übergang zur Wahnstörung
    Das Spezialinteresse kann auch mit einer Wahnstörung verbunden sein. 42 Besteht das Interesse aus der Beschäftigung mit Fantasyliteratur und Superhelden, versucht die Person häufig wie der Held zu handeln, um in sozialen Situationen mit Gleichaltrigen erfolgreich zu sein. Klinisch bedeutsam wird dieses Geschehen, wennsie sich nicht mehr von ihrer zweiten Identität lösen kann und der Überzeugung ist, über besondere oder magische Kräfte zu verfügen und allmächtig zu sein.
Gibt es biologische Modelle?
    Einige Aspekte des Spezialinteresses können auf beeinträchtigte exekutive Funktionen hinweisen (siehe Kapitel 9). Eine der Aufgaben der »exekutiven« Funktionen des Gehirns (die im Frontallappen angesiedelt sind) ist die kognitive Kontrolle dessen, was man sagt oder tut. Das gilt vor allem für die Fähigkeit, Gedanken und Handlungen zu verändern und sie zu unterdrücken. Wenn eine Person mit Asperger-Syndrom sich mit seinem Spezialinteresse beschäftigt oder darüber spricht, zeigt sich oft, dass sie beharrlich daran festhält und darin »gefangen« ist. Sie hat beträchtliche Schwierigkeiten, die Gedanken oder das Gesprächsthema auf etwas anderes zu lenken. 43 Die Person scheint wie verbohrt zu sein und das unwiderstehliche Bedürfnis zu haben, die Aktivität oder den Monolog zu vollenden. Personen mit Asperger-Syndrom berichten oft, wie sehr das Spezialinteresse ihr Denken bestimmt und wie schwierig es für sie ist, auf halbem Wege anzuhalten und etwas anderes zu tun.
    Wir besitzen kein biologisches Modell für die Entwicklung von Spezialinteressen. Eine neuere Untersuchung vierjähriger, sich normal entwickelnder Kinder hat gezeigt, dass begrenzte Interessen bei Jungen und Mädchen eine positive Korrelation zu fetalem Testosteron aufweisen. 44 Möglicherweise ist dies einer der Faktoren, der die Entwicklung von Spezialinteressen beeinflusst.
Medikamente könnte die Freude am Spezialinteresse schmälern
    Die Beschäftigung mit dem Spezialinteresse ist oft die größte Freude im Leben eines Menschen mit Asperger-Syndrom. Falls der Betroffene Medikamente gegen Angststörungen, Depressionen oder unkontrollierbare Wutausbrüche benötigt, sollten Sie bedenken, dass einige Medikamente zwar die