Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
einer ihr fremden Welt angekommen, begriff eine wichtige Spielregel: Wer etwas will, muss etwas geben. Sie wusste noch nicht, was sie hier wollte, aber dass sie etwas wollte, irgendetwas, vielleicht einfach nur hier sein, mittun, das wusste sie, bevor ihr Verstand es begriff.
«Ja», stieß sie hervor, «so ’n großes schlappes Ding.» Sie bemühte sich, ihre Sprache nachlässig schleifenzulassen, was ihr tiefe Freude bereitete, denn es hätte Mademoiselle Ackermann und besonders Tante Lydia schockiert. «Hab sie ihr geschenkt, ich hab noch eine.»
«Stimmt das?» Der Junge blickte streng von einer zur anderen, und das Mädchen, das er Martha genannt hatte, starrte das fremde Kind wütend an. Überhaupt nicht dankbar. Aber ihre Hand blieb mitsamt der Beute tief in der Schürzentasche.
«Spiel dich bloß nicht so auf», fuhr sie den Jungen an. «Du bist ein Jahr jünger als ich, du …»
«Halbes Jahr.»
Martha verdrehte die Augen, und das kleine Mädchen kicherte, trat noch einen Schritt vor und streichelte den weichen Stoff von Henriettas Kleid. «Ist das Seide?», fragte sie. «Oder Samt?»
«Nee.» Henrietta schüttelte den Kopf. Weder Samt noch Seide, das wusste sie, aber sonst? Wer machte sich schon Gedanken über einen Kleiderstoff? «Wenn du willst», sagte sie zu dem dünnen Kind, weil ihr nichts Besseres einfiel, «bringe ich dir auch so ’ne Schleife mit.»
«Wirklich? Was willst du dafür haben? Ich hab nicht viel. Nur ’ne schöne Muschel, aber die …» Das Kind schob die Unterlippe vor, ihre Augen sahen gefährlich nach Tränen aus.
«Nichts», beeilte sich Henrietta zu versichern, sie kannte sich mit der Unersetzlichkeit heimlicher Schätze aus. «Ich will nichts dafür haben. Die Muschel ist bestimmt wunderschön, behalt sie ruhig. Du kriegst die Schleife, wenn …» Sie machte ein Gesicht, als denke sie furchtbar angestrengt nach, Papa und Onkel Friedrich fanden das immer sehr putzig. «Ja», sagte sie, als keiner der drei auch nur ein kleines bisschen amüsiert aussah, «wenn ich mal mit euch angeln darf.»
Der Junge nickte ernsthaft. Wie sich bei Henriettas nächstem Besuch am Steg herausstellen würde, war er der Bruder des kleinen und ein Nachbarkind des großen Mädchens. «Das geht», sagte er, «wir nehm’ nämlich nichts geschenkt von Leuten, die wir nicht kenn’n.»
So begann ein langer Sommer heimlicher Freiheit, gestohlener Stunden. Wer nun glaubt, er habe für Henrietta das reine Glück bedeutet, hat vergessen, wie es war, damals in solchen Sommern im Taftschleifenalter. Erstaunlich blieb, dass Mademoiselle Ackermann niemals fragte, wo und auf welche Weise ihr Schützling in der Sicherheit des Gartens Kleider und Schuhe derart ramponierte, Knie zerkratzte, einmal, als die Brombeerranken am Elbhang gar zu stark geworden waren, sogar das Gesicht. Sie fragte auch nie nach dem Verbleib mindestens sechs verschwundener Taftschleifen verschiedener Größen und Farben. Wäre es nicht ihren Pflichten zuwidergelaufen, hätte man vermuten können, sie zeige so etwas wie einen Anflug heimlicher Zufriedenheit, wenn Henrietta wieder einmal ihrer Aufsicht entkommen war, was für gewöhnlich ein- oder zweimal in der Woche geschah.
Nach Kalendertagen gerechnet waren Henriettas Ausflüge in verbotenes Land und fremdes Leben nicht von langer Dauer, die Flucht aus der Sicherheit und Geborgenheit des väterlichen Besitzes gelang ihr nur bis in die letzten Junitage. Dann folgten vier Wochen Sommerfrische in Travemünde mit Papa, Mademoiselle und einigen der Verwandten aus dem ‹Schloss›, bei der Rückkehr fand Henrietta die Lücke in der Hecke und das Loch im Zaun geschlossen. Als phantasievolles Kind hätte sie vielleicht nach einiger Zeit gezweifelt, ob es sie überhaupt gegeben hatte, ob sie die Stunden im Leben der anderen nur geträumt hatte. Aber wo sonst hätte sie lernen können, auf zwei Fingern zu pfeifen wie ein Fischerjunge und mit der Flitsche auf Eichhörnchen oder die Teetasse von Mademoiselle Ackermanns Nachfolgerin zu schießen?
Auch darüber hinaus hatte sie in diesen Wochen eine Menge gelernt. Nur mit dem Angeln hatte es nicht geklappt. Kein einziger Fisch war an ihrem Haken geblieben.
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Kapitel 1
Juli 1895 In der Nacht von Montag auf Dienstag
E r empfand die Verabredung mitten in der Nacht als angenehm. Vielleicht war angenehm nicht ganz das treffende Wort. Anregend? Aufregend? Von allem etwas. Es war eine Stunde, die schlichte Schatten zum
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