Ein Garten mit Elbblick (German Edition)
wenige Schritte. Er ließ den Blick rasch über die Hauseingänge gleiten, dann auf die andere Seite zur Wandrahmbrücke, dort führte eine Treppe hinunter zu den Anlegern, auf der sich jemand verbergen konnte.
Immer noch war niemand zu sehen. Vielleicht war er ein paar Minuten zu früh. Bevor er seine Uhr aus der Tasche gezogen hatte, schlug die Glocke von einer der Kirchen. Er war pünktlich, auf die Minute.
Hinter keinem Fenster der den Platz säumenden Häuser brannte ein Licht, die Laternen auf der Brücke und am Rand des Platzes glommen nur noch mit müdem Schein, nur die am Brunnen leuchteten heller. Er hörte keine Schritte mehr, einige Straßen entfernt klapperten müde Hufe über das Pflaster, ratterten eisenbeschlagene Räder, es klang, als entfernten sie sich. Da mochte doch einer der Straßenkehrichtwagen in der Nähe sein.
Allmählich fühlte er Unruhe aufsteigen. Er konnte nicht ewig hier stehen, er musste sich zeigen, womöglich wurde er längst erwartet, von einer anderen dunklen Ecke aus. Er löste sich aus dem Schatten der Hauswand und ging, wie es verabredet war, zum Brunnen. Vielleicht fand sich dort eine Nachricht. Oder ein kleines diskretes Päckchen? Auch gut. Nein, es war nicht gut. Auf seinem Weg durch die dichtbebauten Straßen mit ihren labyrinthischen Durchgängen, mit Kellertüren, Schuppen und düsteren Löchern hatte er sich nicht gefürchtet, die wenigen Schritte über den freien Platz hingegen fand er bedrohlich. Was lächerlich war, Gefahr lauerte in dunklen Gassen oder Höfen, auch im Gedränge, aber nirgends war man sicherer als an einem übersichtlichen Ort, einem Platz, auf dem man von vielen gesehen werden konnte.
Tatsächlich wurde er nur von einem gesehen. Und der hatte auf ihn gewartet. Als der Mann, der sich auf ein neues Leben freute, den Brunnen erreichte, hörte er ein Geräusch – nicht die erwarteten Schritte auf dem Pflaster, sondern einen leisen Pfiff. Er drehte sich um, erleichtert, alles lief nach Plan …
Das Messer hörte er nicht, dabei heißt es, wenn ein Messer durch die Luft saust, höre man es wie einen scharfen Windzug. Er hörte nichts. Auch spürte er im ersten Augenblick nichts, und als er es im zweiten doch spürte, war es nur noch ein kurzer Moment des Staunens. Dann gaben seine Beine nach, sein Herz hörte auf zu schlagen, das tiefrote stoßweise Sprudeln aus seinem Hals gerann schnell zum Sickern.
* * *
Etwa zur gleichen Stunde passierte die Lilly Prym Brunsbüttel. Der Fährdampfer hatte Verspätung. Auf der Fahrt zwischen Themse und Elbe hatte er Stunde um Stunde am Rand einer Sandbank nahe den Ostfriesischen Inseln gedümpelt. Die Englandfähren waren bekannt für ihre Pünktlichkeit, ausgerechnet diese hatte fast einen ganzen Tag länger gebraucht als geplant, irgendetwas war mit der Maschine gewesen. Es hatte Stimmen gegeben, die zumindest ein freies Abendessen als Entschädigung forderten. Dem hatte der Kapitän nachgegeben, das freie Bier zur Beruhigung der Nerven jedoch strikt verweigert. Bier beruhigte die wenigsten – er kannte kaum Übleres als randalierende Passagiere, nur Springflut bei Vollmond und Sturm von Nordwest.
Die Lilly Prym hatte wieder Fahrt aufgenommen, die Passagiere schliefen in ihren Kabinen, in den Aufenthaltsräumen und wo immer sich eine ruhige Ecke fand. Henrietta Winfield aus Bristol hatte nur wenig Schlaf gefunden, sie quälte die Gewissheit, zu spät zu kommen, zugleich fürchtete sie das Ende der Fahrt.
Sie war völlig überstürzt zu dieser Reise aufgebrochen, alle Kabinen waren vergeben gewesen. Sie hatte Glück, eine andere alleinreisende Dame überließ ihr das zweite Bett in ihrer Kabine. Dafür erachtete Mrs. Bell aus Chelsea es als selbstverständlich, dass ihr die zweiundzwanzigjährige Mrs. Winfield Gesellschaft leistete, was bei Mrs. Bells außerordentlichem Mitteilungsbedürfnis ein hoher Aufpreis war. Schon in Höhe der Inseln vor der holländischen Küste war Henrietta bestens über die prominenteren Bewohner des feinen Chelsea in Londons Westen informiert, vornehmlich über pikante Affären, einschließlich der einiger Butler, und Verbindungen zum Königshaus – ein in England unvermeidbares Thema.
Als junge Dame aus guter Familie beherrschte Henrietta Winfield alle Spielarten des Smalltalks. Also hatte sie ein interessiertes Gesicht gemacht, hin und wieder ein ‹Ist es die Möglichkeit?› oder ‹Wirklich? Kaum zu glauben!› gemurmelt oder leise Missbilligung mit der Zunge
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