Ein Gebet für die Verdammten
Marcán verdutzt über ihn hinweg in die Höhe schaute. Jetzt wandte auch er den Kopf.
Hoch oben, aber doch nicht so weit entfernt, daß er Genaueresnicht hätte erkennen können, sah er das Mädchen von vorhin. Sie stand am äußersten Rand der Klippe, hoch über den tosenden Wellen. Die blassen Arme hielt sie erhoben wie zum Gebet.
»Ein merkwürdiger Ort, Zwiesprache mit Gott zu halten«, stellte Bruder Marcán fest.
Er hatte seinen Satz noch nicht beendet, da warf Bruder Augaire das Angelzeug beiseite und sprang auf. Der Aufschrei »Halt!« erstarb auf seinen Lippen, als sich das Mädchen wie zu einem Kopfsprung vom Felsen löste, die Hände immer noch in flehender Gebärde von sich gestreckt.
»Deus misereatur …«,
murmelte Marcán, während sein Mitbruder bereits über die Felsbrocken am Ufersaum hastete.
»Folg mir!« rief er über die Schulter. »Unter der Felswand hier gibt es einen schmalen Weg. Vielleicht gelangen wir an die Stelle, wo sie ins Wasser gestürzt ist; noch hat die Flut nicht ihren Höhepunkt erreicht.«
Keuchend, rutschend, stolpernd, die Kleidung nicht schonend, überwanden die beiden Männer Felsen und Tümpel, die ihnen am Fuße der gezackten Steilküste das Vorwärtskommen erschwerten. Dank seiner Angelleidenschaft kannte sich Bruder Augaire hier gut aus, und so verloren sie nur wenige kostbare Minuten. Trotzdem brauchten sie eine Weile, bis sie an dem Unglücksort waren. Der leblose Körper des Mädchens schwamm mit dem Gesicht nach unten auf dem Wasser. Sanft schaukelte er auf den flüsternden Wellen.
Der Leichnam war blutig und zerschunden. An dem schlanken Hals nach einem Pulsschlag fühlen zu wollen war vergebene Liebesmüh; Bruder Augaire tat es dennoch, eine automatische Reaktion. In vollem Bewußtsein eines grauenvollen Endes hatte sie sich in die Felsnadeln gestürzt, hatte gar nichterst versucht, das Gesicht zu schützen. Sie war nicht ausgerutscht, nicht aus Versehen in die Tiefe gefallen, hatte nicht ins Wasser tauchen wollen. Sie hatte es vorsätzlich getan, hatte wissentlich den Tod auf den scharfkantigen Felsen in der Tiefe gesucht.
Behutsam nahm er den Leichnam auf die Arme und bedeutete Bruder Marcán voranzugehen. Langsam und vorsichtig tasteten sie sich am Fuße der Felswand zurück, bis sie den mit Muschelresten übersäten Sandstrand erreichten, wo er seine Last ablegte.
»Da bleibt nichts mehr zu tun, Bruder«, sagte Bruder Marcán leise, als sein Gefährte versuchte, das tote Mädchen und dessen Kleidung leidlich herzurichten.
» Deus vult
. Es ist Gottes Wille.«
»Gottes Wille?« wiederholte Bruder Augaire. »Du irrst. Das kann Gott nicht gewollt haben. Er muß gerade anderweitig beschäftigt gewesen sein. Das hier hätte er nicht geschehen lassen.«
Unbehagen regte sich in Bruder Marcán. »Sie ist von der Klippe gesprungen. Es war kein Unfall. Sie hat sich vorsätzlich das Leben genommen. In den Augen Gottes ist das eine Sünde. Steht nicht geschrieben, das Leben des Menschen ist heilig wegen seiner Verbindung zum Göttlichen und daß man sich im Jenseits die schwerste aller Strafen auferlegt, wenn man sich selbst das Leben nimmt? Das Mädchen wird nicht seine ewige Ruhe finden.«
Bruder Augaire starrte auf das blasse Antlitz. Die melancholischen Züge waren im Tod weicher geworden, die Trauer nahezu gewichen. Fast friedlich mutete ihn jetzt ihr Gesichtsausdruck an. Ein plötzliches Schuldgefühl quälte ihn.
»Ich habe gesehen, wie ihr zumute war, sie litt, die Verzweiflung stand ihr im Gesicht. Ich hätte sie ansprechen müssen,aber ich habe sie in ihrer erschreckenden Einsamkeit allein gelassen. Gott möge mir verzeihen, ich hätte ihr helfen können.«
Bruder Marcán preßte einen Augenblick lang die Lippen zusammen; dann fing er sich und wies auf die Kammtasche, in der Frauen ihre kleinen Toilettenartikel und andere persönliche Dinge bei sich trugen und die noch an ihrem Gürtel hing.
»Vielleicht finden wir darin etwas, das nähere Auskunft über sie gibt. Der Kleidung nach muß sie aus reichem Hause stammen.«
Bruder Augaire löste das Band von dem Beutel und beförderte den Inhalt ans Tageslicht. Das meiste war das Übliche – ein Spiegel, ein Kamm … Dann ein Stück Pergament. Das war ungewöhnlich. Neugierig entfaltete er es.
»Was ist es?« wollte Bruder Marcán wissen. »Hilft es uns weiter?«
Bruder Augaire las die Worte auf dem Pergament und schüttelte den Kopf. »Sieht eher nach ein paar Zeilen aus einem Gedicht
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