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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Grimbert
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gewachsen und versteckte meine Beine und meinen schmächtigen Oberkörper in weiten Kleidungsstücken. Am Vorabend hatte ich die Kerzen zu meinem fünfzehnten Geburtstag ausgeblasen. Bald würde man einen anderen Jahrestag feiern, nämlich den des Sieges von 1945. Der Rektor unserer Schule hatte beschlossen, den Schülern einen Dokumentarfilm zu zeigen. Wir kamen in einem verdunkelten Klassenzimmer zusammen, dessen Tafel mit einem weißen Tuch verhängt war. Ich saß neben dem Kapitän der Fußballmannschaft, einem stämmigen, undisziplinierten Jungen mit Igelfrisur, der nie ein Wort mit mir gewechselt hatte.
    Die Vorführung begann: Zum ersten Mal sah ich diese Berge. Schreckliche Berge, die ich nur aus Beschreibungen kannte. Die Filmspulen drehten sich, und bis sie abgespult waren, hörte man nur das Schnurren des Filmprojektors. Halden von Schuhen und Kleidungsstücken, Pyramiden aus Haar und Gliedmaßen. Im Gegensatz zu dem Fernsehfilm, den ich mit meiner Mutter schweigend angesehen hatte, gab es hier weder Statisten noch Kulissen. Am liebsten wäre ich fortgelaufen, um diesen Bildern zu entgehen. Eines davon ließ mich vor Entsetzen erstarren: eine Frau, die von einem Soldaten in Uniform am Fuß gepackt, zu einer bereits vollen Grube geschleift und hineingeworfen wird. Dieser verrenkte Körper war einmal eine Frau. Eine Frau, die durch Läden bummelte, im Spiegel den eleganten Schnitt ihres neuen Kleids betrachtete, eine Frau, die eine Strähne hochsteckte, die sich aus ihrem Haarknoten gelöst hatte – jetzt war sienur noch diese Puppe mit ausgerenkten Gliedern, die wie ein Sack über einen holprigen Schotterweg geschleift wurde und dabei hüpfte.

    Der Anblick war zu gewalttätig, zu obszön, als daß ich dieses Bild in mein Zimmer hätte mitnehmen können. An manchen Abenden allerdings schreckte ich nicht davor zurück, mir andere Bilder ins Gedächtnis zu rufen, wie nach dem Fernsehfilm, als ich aus der Schlange der nackten Körper diejenigen auswählte, die ich meiner Begierde unterwarf.
    Mein Nebensitzer, der Mannschaftskapitän, rutschte während der Vorführung von Beginn an auf der Bank hin und her und nutzte die Dunkelheit aus, um halblaut einige Unanständigkeiten von sich zu geben, die allgemeines Gelächter in der Klasse auslösten. Er prustete jedesmal los, wenn der obszöne Körper bei einem Stoß seine Schenkel über einem dunklen Dreieck öffnete. Dabei stieß er mich mit dem Ellbogen, und um ihm zu gefallen, lachte ich mit ihm. Ich hätte auch gern etwas Witziges gesagt, aber mir fiel nichts ein. Er imitierte den deutschen Akzent und sagte: »Ach! Judenschweine!«, und ich lachte wieder, lauter als zuvor. Ich lachte, weil er mich mit dem Ellbogen gestoßen hatte, weil mich zum ersten Mal eine dieser Sportskanonen zum Mitmachen einlud. Ich lachte, bis mir übel wurde. Plötzlich drehte es mir den Magen um, ich dachte, ich müßte mich übergeben, und ohne eine Sekunde nachzudenken, schlug ich ihm mit aller Kraft ins Gesicht. Einen Moment lang war er verblüfft, und ich konnte gerade noch sehen, wie sich die Frau aus dem Schwarzweißfilm in seinenweitaufgerissenen Augen spiegelte, bevor er sich auf mich warf und auf mich eindrosch. Wir rollten unter den Tisch, ich war nicht mehr ich selbst, zum ersten Mal fürchtete ich mich nicht, hatte ich keine Angst davor, seine Faust in meiner Magengrube zu spüren. Meine Übelkeit war schlagartig vergangen, ich packte ihn an den Haaren, um seinen Kopf auf den Boden zu donnern, ich drückte meine Finger in seine Augen, ich spuckte ihm ins Gesicht. Ich war nicht mehr in der Schule, sondern kämpfte mit derselben Erregung, mit der ich für gewöhnlich jede Nacht mit meinem Bruder rang, doch im Gegensatz zu ihm behielt mein Gegner nicht die Oberhand. Ich wußte, daß ich ihn umbringen würde, daß ich ihn wirklich mit dem Gesicht in den Sand drücken würde.
    Von unserem Geschrei alarmiert, stoppte der aufsichtführende Lehrer die Vorführung und schaltete das Licht an. Mit Hilfe einiger Schüler trennte er uns: Ich konnte nur noch aus einem Auge sehen, über meine Wange rann eine warme Flüssigkeit, man brachte mich ins Krankenzimmer. Ich verließ das Klassenzimmer unter den Beschimpfungen meines Nebensitzers, dessen Gesicht blutverschmiert war. Immerhin war es mir gelungen, ihm ernsthaft eins auf die Nase zu geben, ein Sieg, der mir für einige Wochen die Hochachtung der ganzen Klasse einbrachte.

    Ich behielt von der Prügelei einen Verband über der

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