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Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition)

Titel: Ein Geheimnis: Roman (suhrkamp taschenbuch) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philippe Grimbert
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Augenbraue zurück, den ich stolz durch die Gänge der Schule trug. Doch diese Verletzung brachte mir weitaus mehr ein als flüchtigen Ruhm, sie war das Zeichen, auf das Louise gewartet hatte.

Schon am nächsten Tag erzählte ich zu Hause alles brühwarm meiner alten Freundin. Meinen Eltern hatte ich eine Version aufgetischt, die es mir ersparte, von dem Dokumentarfilm zu berichten: ein Streit auf dem Schulhof, weil man mir den Füller geklaut habe, den ich einen Tag zuvor zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte. Ich ertappte meinen Vater bei einem erstaunten Blick, in dem ein Hauch von Genugtuung aufleuchtete: Sollte sich sein Sohn also wenigstens zu Wehr setzen können?
    Louise erzählte ich die Wahrheit, ihr allein konnte ich alles sagen. Ich berichtete ihr von der Filmvorführung, ich erzählte von den Bergen, von der Gliederpuppe, und ich schilderte ihr, wie ich sie von der Schändung reinwusch, die ihr angetan worden war. Aber ich verschwieg mein Lachen. Ich war in meinem Bericht schon weit gekommen, als ich plötzlich von meinen Gefühlen überwältigt wurde und vor Louise zu weinen begann, wie ich noch nie vor jemandem geweint hatte. Ihre Gesichtszüge lösten sich, sie schloß mich in die Arme, ich drückte meine Wange an ihre Nylonbluse und ließ meinen Tränen freien Lauf. Bald spürte ich Tropfen auf meiner Stirn. Erstaunt hob ich den Kopf: Louise weinte ebenso rückhaltlos wie ich. Sie schob mich ein wenig von sich und sah mich an, als ob sie überlegte, wie sie sich entscheiden sollte, dann lächelte sie und begann zu erzählen.

    Am Tag nach meinem fünfzehnten Geburtstag erfuhr ich endlich, was ich immer gewußt hatte. Ich hätte mir genauso wie meine alte Freundin den gelben Stern andie Brust nähen lassen oder wie meine Eltern, meine geliebten Statuen, vor den Verfolgern fliehen müssen. Wie alle aus meiner Familie, wie alle unseresgleichen, ob Nachbarn oder Unbekannte, die sich durch die letzte Silbe ihrer Namen verrieten, durch ein -sky, -thal oder -stein. Ich entdeckte, wer alles mir verschwiegen hatte, daß auch er von jenem so lästigen, so schuldhaften Beiwort gezeichnet war. Louise erzählte nicht mehr von der Menge der anonymen Opfer, sondern von sich, von ihrem gemarterten Körper, der während des Krieges erneut gebrandmarkt worden war: mit dem Zeichen, das so schwer war, daß es ihr Humpeln verschlimmerte. Sie erzählte mir von Sätzen, die wie Ohrfeigen waren, von demütigenden Schildern, verschlossenen Türen, Bänken, auf die man sich nicht setzen durfte. Als sie zum Tragen des Sterns gezwungen wurden, entdeckte Louise zu ihrer Überraschung die wahre Identität einiger Nachbarn. Dazu gehörten der Lebensmittelhändler an der Straßenecke mit dem so französisch klingenden Namen, das Rentnerpaar aus der kleinen Nachbarvilla, der Hausarzt des Viertels und auch der unsympathische Apotheker, den sie für einen Antisemiten gehalten hatte. Der gelbe Fleck machte sie für die anderen kenntlich, aber durch ihn erkannten sie auch ihresgleichen, und plötzlich bildeten diejenigen eine Gemeinschaft, die nichts voneinander wußten, weil sie sich immer verleugnet hatten.

    Ich war fünfzehn, als die Karten neu verteilt wurden und meinen Erzählfaden veränderten. Was würde ich mit diesem Beiwort anfangen, mit dem meine magere Gestalt versehen war? Sah ich nicht auch aus wiediejenigen, die in schlotternden Pyjamas auf der Leinwand vorübergezogen waren? Und wie würde ich das Beiwort in meinen Heften schreiben, groß oder klein? Ich war nicht nur schwach, unfähig oder untauglich, ein neues Eigenschaftswort gesellte sich jetzt hinzu. Die Neuigkeit war kaum über Louises Lippen gekommen, als mich diese Identität auch schon veränderte. Ich war zwar noch derselbe, aber ich hatte mich verändert, war auf seltsame Weise stärker geworden.
    Es waren also weder die Entbehrungen noch die Beschlagnahmungen, die meine Eltern dazu getrieben hatten, alles aufzugeben und im anderen Teil Frankreichs Zuflucht zu suchen. War Louise tatsächlich in der Rue du Bourg-l’Abbé geblieben und hatte auf den Laden aufgepaßt, wie sie behaupteten, oder hatte sie die Reise mitgemacht? War ihr Aufenthalt im Indre wirklich so paradiesisch gewesen, wie sie es beschrieben? So viele Fragen, die mir zuvor noch nie in den Sinn gekommen waren.
    Louise schwankte. Sie hatte schon zuviel erzählt, konnte aber nicht mehr zurück. Sie schuldete mir die Wahrheit. Sie würde sich nicht mehr an ihr Versprechen halten und das Vertrauen

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