Ein grüner Junge: Roman (Fischer Klassik PLUS) (German Edition)
durchdrungen, die er zu formulieren und mir darzustellen wünschte. Er sprach furchtbar viel und schnell, mit einer schmerzlichen Anstrengung, sich wiederholend und gestikulierend, aber in den ersten Minuten verstand ich überhaupt nichts.
»Kurz gesagt« (er hatte vorher schon zehnmal den Ausdruck »kurz gesagt« gebraucht), »kurz gesagt«, schloß er, »wenn ich Sie, Arkadij Makarowitsch, inkommodiert und Sie gestern so dringlich durch Lisa hierhergebeten habe, so handelt es sich zwar um einen Feuerbrand, aber da der Entschluß dem Wesen nach extraordinär und endgültig sein soll, so wollen wir …«
»Erlauben Sie, Fürst«, unterbrach ich ihn, »Sie haben mich gestern hierhergebeten? Lisa hatte mir kein Wort davon gesagt.«
»Wie!« rief er aus und verstummte plötzlich, aufs äußerste erstaunt, sogar fast erschrocken.
»Sie hat mir überhaupt nichts ausgerichtet. Sie kam gestern so niedergeschlagen nach Hause, daß sie nicht imstande war, mit mir auch nur ein Wort zu wechseln.«
Der Fürst fuhr von seinem Stuhl hoch.
»Kann denn das wahr sein, Arkadij Makarowitsch? In diesem Fall wäre es … wäre es …«
»Aber was wäre denn dann so schlimm? Worüber erregen Sie sich so? Sie hat es einfach vergessen, oder irgend etwas hat sie …«
Er setzte sich wieder, aber es sah so aus, als wäre er in einer Art Starrkrampf. Die Nachricht, daß Lisa mir nichts ausgerichtet hatte, schien offensichtlich eine niederschmetternde Wirkung auf ihn auszuüben. Plötzlich begann er wieder, schnell zu reden und mit den Armen zu fuchteln, war aber wieder furchtbar schwer zu verstehen.
»Moment!« sagte er plötzlich, verstummte und hob den Zeigefinger. »Moment, das ist … das ist, wenn ich mich nicht irre … das sind die Machenschaften! …« murmelte er mit einem maniakalischen Lächeln, »das bedeutet, daß …«
»Das bedeutet gar nichts«, fiel ich ihm ins Wort, »und ich begreife nicht, warum eine solche Belanglosigkeit Sie so quält … Ach, Fürst, seit damals, seit jener Nacht – wissen Sie noch …«
»Seit welcher Nacht, und was soll das sein?« rief er launisch, offensichtlich verärgert, daß ich ihn unterbrochen hatte.
»Bei Serschtschikow, wo wir uns zum letzten Mal gesehen haben, damals, vor Ihrem Brief? Sie waren damals ebenso furchtbar erregt, aber damals und jetzt – das ist ein solcher Unterschied, daß mir um Ihretwegen ganz bange ist … Oder wissen Sie es nicht mehr?«
»Ach, ja«, bemerkte er mit der Stimme eines Mannes von Welt, der sich plötzlich erinnert, »ach, ja? Jener Abend … Ich habe gehört, daß … Und wie ist Ihr Befinden heute, und wie haben Sie das alles überstanden, Arkadij Makarowitsch? … Aber wir wollen zur Hauptsache kommen. Ich verfolge, sehen Sie, drei Ziele; und ich möchte …«
Er begann wieder, furchtbar rasch von seiner »Hauptsache« zu reden. Ich verstand endlich, daß ich einen Menschen vor mir hatte, dem man sofort ein mit Essig getränktes Handtuch um den Kopf legen oder den man gar zur Ader lassen müßte. Alle seine zusammenhanglosen Reden drehten sich selbstverständlich um den Prozeß und seinen möglichen Ausgang; um den Besuch des Regimentskommandeurs, der ihm nachdrücklich von irgend etwas abgeraten hätte, dem er aber nicht gefolgt wäre; um ein Schreiben, das er soeben irgendwo eingereicht hätte; um den Staatsanwalt; um das Urteil, worauf er wahrscheinlich unter Aberkennung der bürgerlichen Rechte verbannt werden würde, irgendwohin in den russischen Norden; von der Möglichkeit, in die Kolonien zu gehen und sich in Taschkent wieder hochzudienen; von seinem Sohn (dem künftigen, von Lisa), den er so und so erziehen und ihm dies und jenes beibringen würde, »in der Einöde, in Archangelsk, in Cholmogory «. »Wenn ich Ihre Meinung, Arkadij Makarowitsch, hören wollte, so deshalb, glauben Sie mir, weil mir das Gefühl teuer ist, daß … Wenn Sie nur wüßten, wenn Sie nur wüßten, Arkadij Makarowitsch, mein Lieber, mein lieber Bruder, was mir Lisa bedeutet, was sie mir hier bedeutet hat, jetzt, diese ganze Zeit!« rief er plötzlich aus und hielt sich den Kopf mit beiden Händen.
»Sergej Petrowitsch, es kann doch nicht sein, daß Sie sie ins Verderben stürzen und mitnehmen wollen? Nach Cholmogory!« Ich konnte mich plötzlich nicht länger beherrschen. Lisas Los, ein ganzes Leben an der Seite dieses Rasenden – trat plötzlich und wie zum ersten Mal vor mein Bewußtsein. Er streifte mich mit einem Blick, erhob sich
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